Wenn das Menschsein sich rundet
In diesem Jahr, seinem achtzigsten, legt der Andernacher Dichter Fritz Werf, der sich ebenso als Übersetzer aus dem Französischen und Lyrik-Verleger einen Namen gemacht hat, mit dem Band Die gewölbte Zeit eine beeindruckende, ja, berührende Komposition vor. Sogenannte „Notate“ (nicht mit „Aphorismen“ zu verwechseln), zwei Gedichtzyklen, eine Landschaftsreportage sowie Fotografien von Rosa Werf bilden zusammen einen kontrastreichen, dennoch harmonischen Spannungsbogen, geeint durch den illusionslos genauen und kritischen, aber auch die kreatürliche Angst nicht scheuenden, empathischen Blick auf die Endlichkeit und Verwundbarkeit unserer Existenz. Mehr als ein Mal musste ich bei der Lektüre an Martin Heideggers „Sein und Zeit“ denken, in dem die Existenz des Menschen, einziges Lebewesen, dem sein sterben Müssen bewusst ist, vom Philosophen - dem Werf im Übrigen äußerst skeptisch gegenübersteht, ihn einen „Rauner“ nennt - als Sein zum Tode, als geworfener Entwurf im Modus der Sorge entfaltet wird. Allem Vagen abschwörend, fast gnadenlos, sagt Werf schon 1997 in Ohne Widerruf: „Jeder/ eine Sturzgeburt/ in den wachsenden Tod/ unaufhaltsam/ im Fall/aus der Welt/“ (….); nun wird, titelgebend, der Lebensbogen, die Spanne zwischen Geburt und Tod, in den poetischen und reflexiven Blick genommen. Was das ganz in der Gegenwart aufgehenden Kind nicht einmal ahnt, was dem zielstrebig, also „linear“ nach vorne schauenden jungen Menschen eher fremd ist, nämlich das schmerzliche Bewusstsein unserer begrenzten Dauer, lässt sich in späteren Jahren nicht mehr ausblenden, wie das Alter überhaupt unsere Perspektive verändert: „Der Lebenskorridor verliert sich in der Rückschau fern im freien Gelände. In der Vorausschau verengt er sich zu einer kurzen Sackgasse.“ Die fast obsessive Auseinandersetzung mit der immer offene Daseinswunde, dem Skandalon des sterben Müssens, ließe sich auch als Leitthema des Werf‘schen Schreibens bezeichnen. „Was immer er zu schreiben versucht hatte, es galt das entscheidende Wort zwischen Alpha und Omega zu finden.“ Und an anderer Stelle: „Das Leben, ohne metaphysische Spekulation betrachtet, ist ein Drama in zwei Akten: Zeugung und Tod. Alle Zwischenszenen sind Komödien, Burlesken, schlimmstenfalls Boulevard.“(Wo bleibt, fragt sich die Rezensentin, bei dieser Aufzählung die Tragödie?) Ein Notat verwandelt gar die „Binsenweisheit, dass der Tod zum Leben gehört“ in das niederschmetternde Fazit „Das Leben gehört dem Tod.“ Auch hier ließe sich fragen, ob dies nicht ein verkürztes Verständnis vom jahrmillionenalten, überwältigenden Phänomen LEBEN ist, allzu sehr der menschlichen Perspektive und individuellen Todesfurcht geschuldet? Doch glatt und seicht, mainstreamig und bloß gefällig kommt bei diesem streitbaren Autor nun einmal nichts daher; als erprobter Kämpfer weiß er:„ Wer gegen den Strom schwimmt, muss gelegentlich untertauchen, um voran zu kommen.“ Der schwermütigen Beschäftigung mit der Dunkelheit des Endes steht aber, vor allem in seinen Gedichten, die Hinwendung Werfs zum Hellen, zum Trost der Lichtung entgegen, die freilich eine immanente bleibt; den Jenseitströstungen der Religion und ihren Diesseitszurichtungen durch kirchliche Institutionen setzt der Dichter intellektuelle Skepsis und erbitterte Anklage entgegen: „Herr, ich bin nicht würdig!- diese Formel der Selbsterniedrigung verinnerlichen Katholiken von klein auf und, sie verdrängend, erkranken ihre Seelen.“ „Die Wege in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Philosophie gelangen nie an ein endgültiges Ziel. Allein die Religion macht uns glauben, sie wisse, worauf alles hinausläuft.“
Dem Nicht-Gläubigen ist der Tod das Letzte seines Daseins, die Konfrontation mit ihm, ob als Wahrnehmung des Sterbens Anderer oder der eigenen, krankheitsbedingten Todesangst, kommt im Gedichtzyklus Stationär mit Wucht zur Sprache: „Röchelnd/ teilt der Kranke/ den Atem mit dir.// Widerstandslos/ willigt er ein/ in die letzte Gewalt.// Verstummt/ fährt man ihn/ in den Flur. // Die Luft/ wird dir knapp.“
Gesehen wird aber auch: „Eine Frau aus Afrika/ singt den Morgengruß/ entsorgt Abfall und Staub/ flink und mit Würde/in verordneter Zeit.// Sie hinterlässt Bilder/ von Elend und Krieg/ und die Erinnerung/ an unsere Menschwerdung.“, der Blick bleibt also, inmitten und doch jenseits des einschnürenden Angstraums, geöffnet für Wert und Würde des Menschen, die Wohltat menschlicher Begegnung, eine Wertschätzung, die sich auch in zahlreichen Widmungsgedichten Werfs niederschlägt (z.B. in Herzherbst ,2013.)
Das Endliche und Instabile, das Vulnerable, das Brüchige, Rissige, Löchrige, unserer Existenz , dokumentieren - fern jeder vordergründigen Jahresringe-Symbolik - auch die Fotografien von Rosa Werf am Material „Holz“. Kein einziger ganzer Baum, weder hinsichtlich seines Umfangs noch seines Unbeschädigtseins, kommt hier zur Darstellung; was wir sehen sind Ausschnitte der narbigen Rinde, klaffende Löcher, an blutende oder gangränöse Wunden erinnernd, aber auch das Dauerhafte, Sperrige, Widerständige des Materials und sich neu entfaltendes Leben im zerstörten. Wo die Photo-Graphie mit Licht malt, schafft der Dichter mit seiner „Kamera im Kopf“ (…) „immer neue Bilder durch Retusche, Überbelichtung, Montage, Ausblendung, Schwärzen und Aufhellen der Erinnerung“( 2005 erschien Kopfalbum). Im Gedicht Reißwolf und Gedächtnis wird in einem souveränen Akt entschieden, was erinnerungs- und bewahrenswert erscheint, nämlich „die zerlesenen Briefe/ der Freundschaft, die Zeilen/ der Zuneigung“; geschreddert werden dagegen “die Akten amtlichen Daseins“ und des „banalen Ballasts/ aus Papieren der Haftung/ des versicherten Lebens/ und Leidens“; so wird am alltäglichen Vorgang der Entsorgung des überflüssig Gewordenen unpathetisch die Sinnfrage exerziert. Überhaupt versteht sich der Werfsche Blick auf das Große im Kleinen und das Leuchtende, Strahlende im Unscheinbaren: „Blattgold über der Welt in der Frühe und in der Abenddämmerung. Der Tag hat sich gelohnt.“ erklärt ein Notat lapidar. Ein zweisamer Spaziergang am „blanken“ „Maar/ spätherbstlich trunken/von einem Silberhimmel und ringsum lodernd/ein feuriger Forst (…)“ genügt für eine Stunde Glück. In Dunkelkammer liegt matter, weicher Glanz auf dem Vergangenen, Ehrenrettung der Patina: „Es bleibt, was war, / Schwermut und Schweben,/ auch mit dem Stich/ ins Vergilbte.“ Werf sammelt „Lichtblüten“ und sehnt sich nach einer „Lichtzeit, in der Worte keine Schatten mehr werfen“. Nirgends schöner nachzulesen als in Lichtschwemme (2009) ist diese Lichtbegeisterung, poetische Miniaturen, die in Geist und Gemüt des Lesers sinken wie Schneeflocken, leicht und leise, hell und weich. Oder vor ihm aufglühen wie vorübergleitende Funken. Die Notate der gewölbten Zeit kommen meist weniger zart und malerisch daher, kritisieren scharf die Zeitläufte und ihre Missstände. Gleiches gilt für die Reportage über den Lac-du-Der, Europas größten künstlichen Stausee. Wer nun unter „Reportage“ bloß Journalistisches vermutet, wird staunen, sich bei der Lektüre dem bekannten Sog sprachmächtiger Bilder ausgesetzt sehen: „IM FREIZEITHAFEN entlockt eine zupfende Brise den gestrafften Wanten Zittertöne. Anklänge von Fernweh. (….) - „IN WINTERMONATEN ist das entleerte Seebecken eine klaffende Wunde, die sintert.“ Prosapoesie, Seite an Seite mit nüchternen Feststellungen wie „Die Entwerfer und Erbauer des Stausees hielten sich an die Devise: Machen wir uns die Erde untertan! Sie leiteten die durch einen Kanal gezähmte Marne, deren Fließkraft nutzend, in das Becken mit dem wasserundurchlässigen Tongrund. Das Reservoir stillt den Sommerdurst des Molochs Paris.“ Dieser doppelte Blick kennzeichnet das ganze Buch; er scheut sich nicht, Lobgesänge auf die Schönheit anzustimmen, die der Natur oder einer Liebesbegegnung, wagt aber auch, die Ausbeutung der Natur durch den Menschen (Umweltsünden) und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (Kapitalismuskritik) zu entlarven. Überall stürzen mit nahezu schmerzhafter Intensität die Bilder auf den mit großer sinnlicher Beeindruckbarkeit Begabten ein, werden durch Worte gebannt, finden Heimat in ihnen. „DIE SONNE BLUTET AUS/ in einer Wolkenrinne.// Widerscheinröte/ tränkt den Strom. // Sanft fließt die Flut/ entflammt ans Ufer/ zu deinen Füßen.// Die Augen gehen dir über./ Bald schon/ schmerzt Nachtschwarz.“ Das Nachtschwarze der Schwermut ist immer wieder spürbar, doch gerät dieses Schreiben nie defätistisch oder nihilistisch. „Liebe“ heißt das Antidot, und davon frank und frei sprechen zu können – auch das ist ein Privileg des reifen Menschen.
Die gewölbte Zeit beschreibt so den sanften, kontinuierlichen Bogen unseres Existierens, dem das Schroffe und Steile eines raketenschnellen Starts oder plötzlichen Endes fehlt. In seinen Höhlungen sind die Eindrücke und Begegnungen eines lange gelebten Lebens gesammelt, das vielleicht gerade im Angesicht der Endlichkeit seinen spezifischen Reichtum zeigt, Erkenntnisse reifen und Entscheidungen wagen lässt. Im mal falben, mal grellen Licht dürfen die Dinge des Lebens sich zeigen und ausgesagt werden, wie sie sind, selbstverliebtes, forciertes, sprachexperimentelle s „Originell-sein-wollen“ hat keinen Platz mehr, wenn die Zeit sich dem Ende zuwölbt und Zukunftspläne ein Geschäft der Vergangenheit geworden sind. Dafür können nun verstehende Rückschau und die Spiegelung im wohlwollenden Blick des Nächsten aus unseren Zersplitterungen noch einmal „ein Ganzes“ hervorbringen.
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