Proust in Speedos
Fans des amerikanischen Kultautors Gary Shteyngart haben lange darauf gewartet - nun sind die Erinnerungen an seine turbulenten jungen Jahre bei Rowohlt in deutscher Übersetzung erschienen. Der charmante, typisch Shteyngarteske Titel der Biografie: „Kleiner Versager“. Diesmal also keine Spekulationen darüber, wieviel vom Autor im Protagonisten steckt, wie es bei seinen durch die Bank erfolgreichen Romanen bisher oft der Fall war: Vom „Handbuch für den russischen Debütanten“ bis hin zu „Super Sad True Love Story“ sind seine Romanhelden ganz zufällig ebenfalls jüdisch-russische Immigranten.
Shteyngart ist rücksichtsvoll genug, um einzelne Freunde und Bekanntschaften unter Pseudonym auftreten zu lassen, teilen doch schließlich nicht alle so ungeniert Privatleben und Jugendsünden mit der Welt, wie er selbst es tut. Von Rücksicht auf seine Eltern ist hingegen wenig zu spüren. Doch schließlich sind sie es, die den Exodus des zukünftigen Autors initiierten und damit zu unfreiwilligen Hauptfiguren seiner Memoiren wurden. 1979, kurz nachdem Sowjetjuden die Ausreise gewährt wird, verlassen sie Russland stehenden Fußes, um es gegen ein anderes Paradies auf Erden einzutauschen: die Vereinigten Staaten. Da ist Gary, der damals noch Igor heißt, gerade einmal sieben Jahre alt - ein schmächtiger, asthmatischer Junge. Sein erster guter Freund: Wladimir Iljitsch. Lenins Abbild in Samba-Pose mitten auf dem Moskauer Platz beeindruckt den kleinen Igor ungemein.
Mit gewohnt schalkhaftem, nur selten überdosiertem Humor und launigen, oft aber auch nachdenklichen Kommentaren, erzählt er, wie aus dem zarten russisch-jüdischen Jungen von einst zu einem Mann wurde, der zwar nicht ohne Beruhigungspillen das Haus verlässt, ansonsten aber als renommierter Bestsellerautor durchaus gut in die amerikanische Gesellschaft integriert ist.
Seine Laufbahn startet er in der jüdischen Schule in Queens als zweitmeist gehasster Schüler. Wegen seiner dubiosen Herkunft wird er „Rote Rennmaus“ gerufen; er selbst lügt, er komme aus Berlin. Klein Gary liest sich zwar durch die Gesammelten Werke Tschechows, beherrscht die zwei Landessprachen – Englisch und Fernsehen – nur mangelhaft. Auf der Highschool schließt er erste Freundschaften mit nichtjüdischen Mitschülern, die sein eigenes Strebertum in den Schatten stellen. Seine Collegejahre sind heiter bis verzweifelt. Wenn er nicht studiert, probiert er die unterschiedlichsten Rauschmittel, Langhaarfrisuren und Anbagger-Taktiken aus.
Nagende Einsamkeit und das Gefühl, als Versager dazustehen: das sind über lange Jahre die Dämonen, die ihn antreiben. Zu unserem und zu seinem eigenen Glück wird Shteyngart trotz oft miserabler Beziehungs- und Erfolgslage aber nicht zum Gefallsüchtigen. Der Neuamerikaner macht bereits als Dreikäsehoch mit dickem russischen Akzent unbeirrt sein Ding - und ganz nebenbei die Entdeckung seines Lebens: Mit der Schriftstellerei kann man alles erreichen. Bald bekommt er den Spitznamen Gary Gnu weg, fast so etwas wie ein Zeichen der Anerkennung. Denn die „Gnorah“, also die Torah des Gary Gnu, die er auf der jüdischen Schule verfasst, wird bei seinem Mitschülern ebenso zum Hit wie sein „Sexodus“. Der Junge schreibt, „weil es nicht Freudigeres gibt als Schreiben, selbst wenn das, was man schreibt, verquer und hasserfüllt ist, triefend vor Selbsthass, der Schreiben nicht nur möglich, sondern notwendig macht.“
Großmutter Galja ist zwar nicht für den Selbsthass des jungen Künstlers verantwortlich, seine Schreibleidenschaft hat er aber vor allem auch ihr zu verdanken. Die in Russland zurückgelassene Oma hatte ihn mit Käse für seine ersten Schreibversuche belohnt, als sein Lebensmittelpunkt noch die „Kulturcouch“ in der kleinen Leningrader Wohnung war und er selbst ein Junge, der auf Urlaubsfotos „aussieht wie Marcel Proust und die Warschauer-Pakt-Variante einer Speedo-Badehose trägt“. Damals schrieb er an seinem Erstling „Lenin und seine magische Gans“, in dem oben erwähnter Freund Wladimir eine tragende Rolle spielt.
Wenn die Autobiografie des 43-jährigen Autors bisweilen an Woody Allen erinnert, dann liegt das an der New Yorker Kulisse, dem etwas rastlos wirkenden Wortfluss, und natürlich an Berichten von Sitzungen beim Analytiker. Schuld sind scheinbar handfeste Komplexe, und die Folgen einer sowjetischen Erziehung, die Mutter und Vater Shteyngart ihrem Sohn auch im Land des Klassenfeindes angedeihen lassen. Gary wird bald seine rosarote Brille ablegen, seine Eltern glauben weiterhin fest an Amerika, das gelobte Land. Illusionen romantischer Art machen sie sich indes nicht. Fast selbstquälerisch präzise dokumentiert der „kleine Sohn“, wie sie sich deftige Beleidigungen an den Kopf werfen und mehr als einmal haarscharf an einer Scheidung vorbeischlittern. Dass Shteyngart klug und eloquent über marode Beziehungen schreibt, rettet sein Buch vor seichtem Fahrwasser. Wobei Unterschiede zwischen Hoch- und Popkultur für den Mann, der Czeslaw Milosz ebenso locker zitiert wie Springsteen, ohnehin nicht existieren.
Unterhaltsam und berührend ist die Biografie vor allem dann, wenn es um den unvermeidlichen Kulturclash geht, den der Immigrantenstatus zwangsläufig mit sich bringt. Genial, wie fast beiläufig aber auch die Achtziger zum stillen Protagonisten des Buches werden. Dass die von Atomkrieg-Ängsten, Yuppietum und Videospielen geprägte Reagan-Ära Shteyngarts Jugend nachhaltig beeinflusst hat, zeigt sich nicht allein an der Mode auf den gnadenlos unvorteilhaften Fotos, mit denen das Buch bestückt ist. Diese Selbstironie ist es, die, gepaart mit einem gewohnt satirischen Blick auf die kleinen Tragödien amerikanisch-russischer Beziehungen, Shteyngarts Biografie zu einem Werk macht, dem man einiges vorwerfen kann – Selbstzensur und Nüchternheit aber ganz sicher nicht.
Auf seine nonchalante Art heimst Gary Shteyngart daher auch bei jenen Sympathiepunkte ein, die mit seiner meist satirischen Belletristik ansonsten nicht viel anfangen können. Man darf seine Anekdoten über Trinkgelage und Partys im College ein wenig überflüssig, vielleicht sogar irrelevant finden. Aber auch sie gehören zum Leben des Autors, der mit einer solch entwaffnenden Offenheit und Klugheit über seine jungen Jahre schreibt, dass man nicht umhin kann, die Lektüre von „Kleiner Versager“ jedem ans Herz zu legen, für den die Fronten nicht zwischen Bliny und BigMac verlaufen.
Ein netter Bonus ist übrigens, dass man sich ganz nebenbei bei der Lektüre einen Basiswortschatz Russisch aneignet. Schlüsselwörter sind hier unter anderem „sopljak“ (Rotznase), „raswod“ (Scheidung) und, klar, „failurtschka“. Im russisch-amerikanischen Hybridwort steckt so viel Liebe und Spott und Zärtlichkeit, wie eine russisch-jüdisch-amerikanische Kindheit offenbar braucht und aushalten kann. Kleiner Versager: eine schönere Beleidigung gibt es wohl kaum.
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