Sei dieser Ozean
Bataille ist den meisten ein Begriff, obwohl sie vermutlich nur Ausschnitte aus seinem recht umfangreichen Werk gelesen haben. Umfangreich in dem Sinne, als dass es sich wahllos auf vollkommen unterschiedliche Themenbereiche, (mehr oder weniger) fundiert, bezieht: Religion, Geld, Erotik, Politik, Kunst, Literatur, Anthropologie und vieles mehr. Dabei war Bataille (1897-1962) hauptsächlich zweierlei, getrieben und ekstatisch. Man könnte sagen, er, der zwischen Literaten-, Philosophen- und Kulturwissenschaftlerexistenz pendelte und hauptsächlich als Bibliothekar sein Geld verdient hat, ist die meiste Zeit einfach nur er selbst gewesen. Ausgestattet mit eben jenen Charakterzügen und dem widerspruchs-inflationären Selbst-Genügen widmete sich dieser große Außenseiter des 20. Jahrhunderts allem, was ihn zu Lebzeiten umgetrieben und angezogen hat. Eine Projektion der eigenen (schwierigen) Biografie in eine vermeintliche Wissenschaftlichkeit. Das ist natürlich auch bei den meisten Wissenschaftlern der Fall, ob offenkundig oder nicht – fast alle überschneiden ihr Leben mit der dazu passenden Wissenschaftlichkeit, alles andere spräche für entseelte Maschinen statt Menschen. Der Unterschied zu Bataille ist nur, dass sie sich emanzipieren und ihre Biographie ausblenden können, sie hinter ihrem Werk (Traktat, Analyse etc.) vollständig zurücktreten können. Genau das hat Bataille nie gekonnt bzw. nicht wollen. Deshalb lehnen ihn durch die Bank beinahe sämtliche Philosophen oder Wissenschaftler ab, weil er nicht wissenschaftlich genug ist, nur behauptet, nichts belegt, nur runterschreibt und nichts akademisch argumentiert, komponiert etc. Andererseits lehnen ihn aber auch viele Literaten ab, weil er sich ständig in die Überhöhung der Fiktion durch (scheinbare) Wissenschaftlichkeit flieht (das gilt für sein theoretisches Werk, das etwa 80 Prozent seines Schaffens ausmacht). Also, man kann sagen, eine lose-lose Situation für Georges Bataille, der natürlich und auch gerade deswegen immer Verehrer hatte und, Tendenz steigend, haben wird. Denn, so könnte man hinzufügen, Bataille ist frei. Ein Künstler, über den Dingen und in keinen Abhängigkeiten stehend. Ob er das selbst wusste, sei dahingestellt. Jedenfalls ist eine solche Haltung fundamental in heutige Zeiten vorausschauend gewesen. Eben keiner Schule anzugehören, ganz Individuum zu sein und mutig genug, sich mit all seinen inneren Perversionen zu zeigen. Fast ein Jahrhundert vor Knausgard, Chris Kraus und ähnlichen BekennerInnen.
In Die Innere Erfahrung, dieser Tage wiederaufgelegt in der frisch erneuerten Herausgabe der mythischen 80er Jahre Widerspenst-Brocken namens „Batterien“ bei Matthes & Seitz, zeigt Bataille alles, wofür er berüchtigt ist. Eine vorherige Lektüre seiner geistigen Ziehväter Nietzsche, vor allem Hegel und dessen französisch-russischen Exegeten Alexandre Kojève scheint ziemlich unerlässlich, sowie Vorkenntnisse des Werkes seiner Mitstreiter Maurice Blanchot, der auch selbst im Text zu Wort kommt, außerdem das Nachwort verfasst hat, Michel Leiris, ebenfalls ein Matthes & Seitz Gott, als auch der Texte Artauds und Bretons, die zeitgleich das radikale Klima der Entstehungszeit der Inneren Erfahrung kurz vor dem Ausbruch des sogenannten Existenzialismus Sartrescher Prägung mit ihren Denk- und Schreibansätzen, die wie geistes-terroristische Strafexpeditionen auf alles überkommen Bürgerlich-Akademistische loszogen, befeuert haben. Es geht um Erfahrung. Natürlich hat Bataille eine erstaunliche Aktion auf der „Erfahrungsseite“, nämlich die allseits bekannte fantastische Rettung sämtlicher Manuskripte Walter Benjamins in den Tiefen der Bibliotèque Nationale, in der Bataille arbeitete. Deren völlig gegenteiliger Ansatz einer prä-modernistischen ersten Medienphilosophie scheint Bataille allerdings nicht im Mindesten angeficht zu haben. Und im Gegensatz zu seinen tatsächlich reisenden Geistesgefährten Leiris, Cendrars, Artaud, Mauss und später Lévi-Strauss etc. ist Bataille nicht einen Moment aus diesem Bücherturm der Bibliothek gekommen, und hat all seine Erfahrung, von der er spricht, folglich im Inneren oder auf Fotos bezogen gemacht. Hier ist das Überschneiden der Biografie mit dem Projekt, wie er es nennt, der Inneren Erfahrung, die so etwas wie ein Binnenknall ist, mit all ihren Widersprüchen offensichtlich: Worüber Bataille eigentlich schreiben will, kann man nicht schreiben. Und was er nachvollzogen hat in seinem Inneren, kann kein anderer in gleicher Art. Es erinnert an das dharma, die Zen-Erfahrung, die nicht vermittelbar ist. Doch diese ist Bataille wohl bekannt, wie auch sämtliche christlichen Mythen und Dogmen, und er betreibt in Die Innere Erfahrung ein (aussichtsloses) Ringen, diesem Widerspruch, dieser Absurdität einer unbeweisbaren These Worte zu verleihen, ihr Sprache abzuringen. Mal vollzieht er regelrechtes bashing im modernen Sinne sämtlicher Religionen, weil er deren Ekstasen, dharma und Epiphanien jeweils nicht teilen mag, mal schreibt er Anekdoten nieder im Fahrwasser der Denk- und Körperoperationen seiner Erfahrung, verzehrt sich dabei in sprachgewaltigen Metaphoriken, streut eigene Gedichte als Argumente ein und im Nu ist er immer wieder bei seinen zentralen Themen, die ihm den Ruf eines Gewaltgurus und Erotikgestörten eingebracht haben: Marter, Folter, Sexualität. Wo in Das obszöne Werk mit literarischer Konsequenz in der Narration Perversion um Perversion aufgeblättert wird, gräbt Bataille hier und auch in späteren Werken an den Wurzeln seiner eigenen Faszination des Gewalttätigen als Barthessches punctum („das, was mich anzieht, sticht, trifft etc.“) in einer typisch französischen Prägung: de Sade, Mirbeau, Lautréamont, G.B., Grand Guignol, Céline, Artaud usw. (nicht zuletzt der französische Extremhorrorfilm Martyrs ist in Wirklichkeit eine um filmische Reißereien erweiterte Bataille-Fantasie). Es ist konkret die Vorstellung, dass der zu Tode Gemarterte, das Beispiel ist immer wieder das Foto (auf Batailles und vieler Menschen mehr Schreibtisch befindliche) eines an chinesischer Gerichtsbarkeit um 1900 bei lebendigem Leib Verstümmelte, einen derart ekstatischen Himmelsblick im Moment der Belichtung trägt, dass Bataille nichts anders empfindet als lustvolle Befriedung, sowohl sexuell als auch geistig (Innere Erfahrung) stimuliert. Die Scham für dieses Gefühl und die gleichzeitige Suche einer Evokation dieses Gefühls außerhalb bisher gemachter persönlicher Erfahrung ist die Triebfeder des Buches und Bataille schreibt besessen Seite um Seite in absolut unnachvollziehbarer Methode (absichtlich) und ist dennoch sehr lesbar, wenn man sich davon frei macht, hier ein Stück Diskurs oder gar Dialektik serviert zu bekommen. In der Verweigerung, nachvollziehbare Philosophie anzubieten, und stattdessen sich selbst anzubieten mit all seiner poetischen Kraft, voller absurder, überraschender, dunkler Sprache liegt die Kraft der Inneren Erfahrung, die wohl immer verfemt bleiben wird, wie Bataille auch, ein totaler Bastard, aber die leuchtet wie ein großes Stück Freiheit und Mut auf 300 Seiten.
Hier ein Express durch Batailles Innere Erfahrung:
„[…] es ist unleugbar – das Vorrücken der Intelligenz hatte den Nebeneffekt, das Mögliche in einem Bereich zu verkleinern, der der Intelligenz fremd erschien: dem der inneren Erfahrung.
[…] Um die Entfernung des heutigen Menschen von der „Wüste“ zu bestimmen, des Menschen mit den tausend misstönigen Albernheiten (etwa Wissenschaftlichkeit, Ideologie, Spaßglück, Fortschritt, rührende Sentimentalität, Maschinenkult, Glaube an die großen Worte, schließlich Zwietracht und völliges Nichtwissen um das Unbekannte) will ich sagen, dass die „Wüste“ der vollständigste Verzicht auf die Sorgen des „heutigen Menschen“ ist […]
[…] Ich unterbreche von neuem den Verlauf der Darlegung. Ich nenne keine Gründe dafür.
[…] (Ich schaue auf niemanden herab, aber die Asketen und die Genießer sehe ich mir lachend an, wie ein Kind es tut.)
[…] Ich lebe aus spürbarer Erfahrung und nicht aus logischer Erklärung. Ich habe vom Göttlichen eine so verrückte Erfahrung, dass man mich auslachen wird, wenn ich davon spreche.
[…] Um zum Äußersten des Menschen zu gelangen, ist es in einem gewissen Grad notwendig, das Schicksal nicht zu erleiden, sondern zu erzwingen.
[…] Kleine komische Rekapitulation. – Hegel, denke ich, berührte das Extrem. Er war noch jung und glaubte, verrückt zu werden. Ich denke mir sogar, dass er das System ausarbeitete, um zu entkommen […]
[…] Ich gelange zu dieser Einstellung: Die innere Erfahrung ist das Gegenteil des Handelns. Nichts sonst. […] Die innere Erfahrung ist die Aufkündigung der Ruhe, sie ist das Sein ohne Aufschub. / Prinzip der inneren Erfahrung: durch ein Projekt den Bereich des Projekts verlassen.
[…] Selbst im Inneren des vollendeten (unaufhörlichen) Kreises ist das Nichtwissen Zweck und das Wissen Mittel. In dem Maße, in dem dieses sich für den Zweck hält, versinkt es im blinden Fleck. Doch Poesie, Lachen, Ekstase sind keine Mittel für etwas anderes. Im „System“ sind Poesie, Lachen, Ekstase nichts. Hegel entledigt ich ihrer mit Eile: er kennt als Zweck nur das Wissen. Seine ungeheure Müdigkeit hängt in meinen Augen mit dem Gräuel vor dem blinden Fleck zusammen.
[…] Ich habe meine Zuflucht zu aufwühlenden Bildern genommen […] Am Ende wand sich der Gemarterte, mit abgehäuteter Brust und an Ellenbogen und Knien abgetrennten Armen und Beinen. Die Haare zu Berge stehend, grässlich, entsetzt, mit Streifen von Blut, schön wie eine Wespe. / Ich schreibe „schön“! ... etwas entgeht mir, entflieht mir, die Angst entzieht sich mir selbst, und meine Augen gleiten ab, wie wenn ich die Sonne hätte fixieren sollen […]
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben