Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Leseleben

Margwelaschwili entwickelt Fiktionen beiderseits einer Realitätsgrenze
Hamburg

Dass ein Buch, ähnlich wie das Schachspiel, aber auch Mensch-Ärger-Dich-nicht, eine eigene Welt sein kann, in die man sich zurückzieht, wird niemand bestreiten. Es lässt den Spieler oder Leser zuweilen die sogenannte Realität vergessen, sich auf Pfade begeben, die jenseits seiner Vorstellung und Erfahrung liegen.

Ich formuliere hier vorsichtig, denn nicht immer vermag eine Buch oder ein Spiel diesen Ausritt ins Imaginäre zu ermöglichen. Manchmal ist der Realitätsdruck des Lesers zu groß, seine Sorge zu stark, und manchmal sucht man ja gerade in der Lektüre Momente, die uns in der Realität Wege weisen könnten. Auswege.

Auf eben jener Grenze, der Grenze zwischen lebensweltlicher Realität und literarischer Fiktion sind die Prosastücke Margwelaschwilis angesiedelt. Ihr märchenhafter Ton aber gibt kund, dass sie selbst in der literarischen Realität anzusiedeln sind, jener zweiten Welt also, in der sich Lebenswelt spiegelt, verfängt oder auch vergisst.

Giwi Margwelaschwili wurde 1927 als Sohn georgischer Emigranten in Berlin geboren. Er wuchs also in Deutschland und deutschsprachig auf. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden er und seine Eltern vom Sowjetischen Geheimdienst entführt und deportiert. Sein Vater wurde als vermeintlicher Verräter erschossen.

Giwi Margwelaschwili selbst lebte, studierte und lehrte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, bis es ihm also möglich war nach Deutschland zurückzukehren als Schriftsteller und Philosoph in Tiflis. Heute lebt er in Tiflis und Berlin.

Man möchte meinen, dass angesichts eines solch bewegten Lebens ein paralleles Leseleben gar nicht von Nöten wäre, oder es bezieht seine Notwendigkeit und Turbulenz gerade daraus. Margwelaschwili entwirft in seinem Buch Das Leseleben in kurzen Prosastücken also eine Buchwelt mit eigenem Personal und Landschaft. Der Leser ist es, der beide Welten bewohnt, in der einen oder der anderen Welt auch die aktive Instanz zu sein scheint. Zuweilen proben die Bewohner der Buchwelt aber auch den Aufstand, so wenn es zum Beispiel Werther nicht mehr erträgt, dass man ihm beim Selbstmord zusieht und seine Pistole auf den Leser richtet.

Hintergrund dieser eher verspielten Texte ist ein Ernst-Philosophischer. Der Autor nennt das Ontotextualität und beschreibt das folgendermaßen:

Diese grundsätzliche Abhängigkeit der Geschichte (auch und vor allem der Kulturgeschichte) von textuellen Unter- oder Vorlagen ist aber nur eine von vielen anderen Ausdrucksformen für das, was wir "die ontotextuelle Verfassung des Bewusstseins“ nennen möchten, nämlich Ausdruck des Bewusstseins als einer ontotextuell vorprogrammierten, d. h. der Vorschrift seines Ontoprogramms oder Ontokodes gehorchenden, Instanz.

Wie die Lebenswelt also über den Leser auf die Buchwelt wirkt, wirkt auch die Buchwelt über den Leser in den lebensweltlichen Kosmos hinein, ist Bestandteil der Konstitution des Bewusstseins des Lesers. Kurz: Wir alle sind auch von Texten geprägt.

Diesem Gedanken folgt Margwelaschwili in Das Leseleben auf humorvolle und illustrative Art. Dem entspricht auch die Gestaltung des Buches. Den Kurztexten sind Illustrationen Zubinskis beigegeben, die das Alphabet gewissermaßen sprechen lassen. Und: aufgrund buchbinderischer Möglichkeiten, die ich zugegebenermaßen nicht ganz durchschaue, haben die Texte in jedem Exemplar des Buches eine eigene Reihenfolge. Jedes Buch also ist dem anderen gleich, aber doch individuell.

Giwi Margwelaschwili
Das Leseleben
Illustrationen von Zubinski
Verbrecher Verlag
2014 · 80 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
9783957320728

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge