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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Der große NSA-Roman

Hamburg

Der NSA-Skandal beflügelt allerorten die Kreativität: Während das ZDF in einer kritischen Dokumentation Bilderberg-Konferenz, Merkel-Handy und nichts geringeres als die große Weltverschwörung in einen Topf wirft (Verschwörung gegen die Freiheit, Ausstrahlung am 27. Mai 2014), wird anderswo der Ruf nach einer neuen, den veränderten Umständen gemäßen Science-Fiction-Literatur laut.

So zuletzt am 16. Februar 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als der Autor Günter Hack in dem ausführlichen Artikel „Wir brauchen eine neue Science Fiction“, der en passant die Geschichte der Science-Fiction-Literatur nacherzählte, Wissenschaftler, Programmierer und Schriftsteller dazu aufrief, ein Gegenprogramm zu der von NSA und GCHQ korrumpierten digitalen Gesellschaft zu entwerfen.

Grund genug, sich einmal genauer anzuschauen, wer hinter dem Artikel steckt: Der 1971 in Kelheim geborene Günter Hack ist, wie der Autorenkasten des Artikels informiert, gelernter Schriftsetzer, hat an der Universität St. Gallen und als Journalist gearbeitet, und, siehe da, der Mann ist selbst Schriftsteller! Ein Blick auf seinen Roman, spacig gestaltet und unter dem kryptischen Titel ZRH 2009 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, scheint lohnenswert.

Dieser führt zunächst in die glamouröse Schweizer Kunstszene. Ein namenloser Ich-Erzähler, abgebrannter Fotograf, versucht sein Projekt – er hat in ganz Deutschland Aldi-Filialen fotografiert – an den Mann zu bringen. Der am Ankauf interessierte Sammler findet sich in Zürich. Dort angekommen, muss aber erst noch ein Auftrag erfüllt werden, bevor der Kauf abgeschlossen werden kann: Der Schauspieler David Hemmings hat in seiner Rolle als Fotograf für Michelangelo Antonionis Film Blow Up im Jahr 1966 angeblich echte Fotos mit einer Nikon F2 geschossen, und diese gilt es nun aufzuspüren, koste es, was es wolle.

Soweit, so realistisch. Doch jetzt kommt es zu ersten Verschiebungen im Weltgefüge: Die Schweiz ist in Günter Hacks Roman einem seltsamen Auflösungsprozess unterworfen, die Ausdruck einer neuen, als „fraktal“ beschriebene Territorialpolitik ist. Vereinzelte, wirtschaftlich defizitäre Kantone werden an andere Länder oder Organisationen vermietet; deren Einwohner gehen entweder in die Jurisdiktion des Mieters über oder müssen sich für horrende Summen in die verbleibenden Landesteile zurückkaufen.

Das bietet natürlich Boden für kriminelle Energie, und tatsächlich meint man sich nicht selten in einem Krimi wiederzufinden, wenn man ZRH liest. Dazu passt auch die cool-abgebrühte Hauptfigur des Fotografen, der Züge eines hardboiled-Detektivs trägt. Der Handlungsfaden von ZRH ist indes völlig abenteuerlich: Reihenweise skurrile Gestalten tauchen auf, die wild durcheinanderreden, größtenteils zu Themen, die weder zur Weiterführung des Geschehens beitragen noch – man denke nur an die Nebenfiguren eines Thomas Pynchon, der hier womöglich Pate stehen sollte – interessante Subplots einleiten. Dann wieder driftet Günter Hacks hardboiled-Fotograf unvermittelt in futuristische Fantasien ab, in denen er ganze Gebäude lebendig werden und die Züricher Innenstadt in Schutt und Asche legen lässt.

Straight erzählt wird hier also nicht, dafür werden beiläufig noch einige Krimi-Klischees verbraten. So liegt die erste – zumindest vermeintliche – Leiche natürlich bald in einem düsteren Mietshaus, und es gibt es eine knisternde Liebesszene mit einer geheimnisvollen Partyschönheit. Dazwischen klärt sich die Rolle der so genannten „Schwarze Zunft“, einer Art Geheimbund, der in Zürich die Geschicke lenkt. Während der eigentliche Auftrag mehr und mehr in den Hintergrund gerät, zeichnet sich in Form dieses Geheimbunds eine Verschwörung zwischen Wirtschaft und Politik ab, die sich die fragile Verfassung der Schweizer Kantone zunutze macht und auf technologisch avancierte Weise Geschäfte mit so genannten Körperwandlern betreibt. Auch die Kontaktperson, die in Besitz der verschollenen Blow-Up-Fotos ist, war in diese Verschwörung verwickelt – und ihr womöglich zum Opfer gefallen.

Erfüllt Günter Hack nun selbst den Wunsch, den er in der FAZ formuliert hat? In ZRH – immerhin schon 2009, lange vor dem NSA-Skandal erschienen – machen sich Aktionskünstler öffentliche Knotenpunkte in Handynetzen für Sabotageakte an der öffentliche Kommunikation zunutze; die Erzählwelt ist währenddessen in einen vagen Zwischenstadium zwischen Realität und dystopischer Zukunftsvision verortet. Günter Hack nimmt sich leider jedoch wenig Zeit, seine zahlreichen Ideen und durchaus auch scharfsinnigen Beobachtungen auszuarbeiten und besser zu strukturieren. So wird ZRH zu einer wild collagierten Chimäre zwischen lakonisch-trockenem Krimi, düsterer Science-Fiction-Vision und bitterböser Politsatire.

In seinem Artikel für die FAZ benennt Günter Hack Vorbilder wie Arthur C. Clake, William Gibson und Philip K. Dick als Autoren einer fantastischen Literatur, die über ihre Zeit hinaus wies, aber gleichzeitig immer auch stark in ihrer Gegenwart verhaftet war. ZRH ist vor diesem Hintergrund immerhin ein Versuch in die richtige Richtung. Jetzt kann der große NSA-Roman kommen.

Günter Hack
ZRH
Frankfurter Verlagsanstalt
2009 · 272 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-627-00161-2

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