Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Nichts sein

Gwenaëlle Aubrys neuer Roman ist ein poetischer Nachruf auf ihren Vater, der viele und zugleich „Niemand“ war.
Hamburg

„Ein störendes Gespenst“ – so nennt Gwenaëlle Aubrys Vater seine Krankheit; so lautet auch der Untertitel  seiner Aufzeichnungen, die Aubry in ihrem berührenden Erinnerungsbuch „Niemand“ mit einarbeitet.

Zeit seines Lebens gilt der Vater als „das melancholische schwarze Schaf“ innerhalb seiner bürgerlich-dünkelhaften Familie. Die Diagnose einer manisch-depressiven Psychose kommt erst, als die Tochter längst erwachsen ist und selbst Nachwuchs hat. „Deinem Vater geht es momentan nicht gut“, bekam sie als Kind zu hören. Während sie und ihre Schwester an den Strand geschickt wurden zum Baden und Sandburgen bauen, schloss sich der Vater in seinem Arbeitszimmer ein, rauchte und kritzelte seine Hefte voll. Der Schein wurde gewahrt, auf beiden Seiten.

Erst mit Ende dreißig, kurz nach dem Tod des Vaters, macht sich Aubry daran, die verschämt geflüsterten Beschönigungen ihrer Jugend zu enthüllen.

Die Aufzeichnungen des Vaters, betitelt „Das melancholische schwarze Schaf“, sind versehen mit der Notiz „einen Roman daraus machen“. Aubry hätte es sich einfach machen können – Trauer, Wut und Schuldgefühle mit der bloßen Herausgabe dieser Aufzeichnungen nach außen tragen, weit entfernt aussetzen wie ein lästig gewordenes Haustier. Stattdessen beginnt sie, aus ihren eigenen Erinnerungen „einen Körper aus Wörtern“ zu bauen „für den, der kein Grab hat, eine Burg der Anwesenheit, um seine Abwesenheit zu beschützen“.

Aubry ordnet ihre Erinnerungen von A bis Z, beginnend mit dem Stichwort „Antonin Artaud“, in dessen geistigen Martyrien sich ihr Vater wiederzuerkennen glaubte. Auch ihr Vater hat wie besessen geschrieben – nur gelang es ihm nicht, wie Artaud, seinen Wahnsinn in Genie zu transformieren. Aubry fährt fort mit „Bond (James Bond)“, „Clown“ und sämtlichen anderen realen und fiktiven Figuren, in deren Haut ihr Vater schlüpft oder deren Übermacht er zu entkommen versuchte. Dabei reflektiert sie stets das Scheitern mit, das eine derart willkürliche Ordnung mit sich bringt, den impliziten Verrat dieses Textes „am Schweigen, am Geheimnis, am Schein, den es zu wahren gilt“. Das Schreiben stellte für ihren Vater eine Möglichkeit dar, die eigene Existenz zu beweisen, sich für sich selbst greifbar zu machen. Aber wollte er gefunden werden, von anderen? Festgehalten in fremden Worten, in einem Text wie „Niemand“? Aubry maßt sich nicht an, den Willen ihres Vaters zu kennen. Sie lässt die Frage offen, ob er diesen schmalen Roman, für den sie 2009 den Prix Femina erhielt, gutgeheißen hätte oder nicht.

Seine Aufzeichnungen flicht sie sparsam ein, um einen Dialog entstehen zu lassen zwischen der kleinen Gwenaëlle und dem „großen Schatten“, an dessen Seite sie aufwuchs. Als dritte Stimme wacht dahinter die erwachsene Autorin und Philosophin, die ihre schwierige Vater-Tochter-Beziehung reflektiert und die Richtigkeit ihres eigenen Tuns immer wieder in Frage stellt.

Mal sachlich-beschreibend, mal in poetisch-atemlosen Endlossätzen, zeichnet Aubry das Leiden ihres Vaters an sich selbst nach, aber auch die Ekstase der Ichlosigkeit, die in der Kunst und in vielen Religionen als höchstes Glück gepriesen wird. Eine chronologische Erzählordnung lässt das Auf und Ab manischer und depressiver Episoden nicht zu. Vielmehr wirft die Autorin in Stichworten wie „Erleuchtet“, „Wiedergänger“ oder „Verräter“ kurze, präzise Schlaglichter auf ihren Vater. So macht sie ihn für wenige Augenblicke greifbar, bevor er sich wieder entzieht und abgleitet in die Dunkelheit, in die hinein ihm niemand folgen kann.

François-Xavier Aubry ist der angesehene Jura-Professor, der seine Töchter in luxuriös eingerichteten Wohnungen empfängt und sich aufmerksam und charmant um die Enkelinnen kümmert. Er ist aber auch der Clochard, der barfuß durch Paris irrt, vor den Oberschulen Zigarettenkippen aufsammelt und im Spital um ein Sandwich bettelt. Innerlich bleibt er Zeit seines Lebens ein fünfjähriges Kind, das mit wechselndem Erfolg die Rolle des Clowns, des schwarzen Schafs, des Spions, des Königssohns probiert. „Wenn er sich so sehr damit abplagte, den Erwachsenen zu spielen, dann vielleicht, weil hinter seiner Maske niemand war: und dieser Niemand war nicht die rettende und listige Anonymität des Odysseus, sondern ein Vakuum, eine klaffende Leere.“

Anstatt einfache Erklärungen für seine psychische Krankheit zu liefern, gibt die Autorin ihrer Trauer um den Abwesenden Raum, und auch ihrer Wut auf den Vater, der seiner Beschützerrolle nie gerecht werden konnte.

Unerbittlich zieht sie diejenigen zur Rechenschaft, die sich betreten abwenden, wenn sie ihnen von ihrer Sorge um den verschwundenen Vater erzählt. In deren Schockstarre angesichts des Wahnsinns, des aus der Gesellschaft Gefallenen, in deren Innerstem die Angst vor dem eigenen Abrutschen steckt – „in diesem Schweigen verschwand mein Vater ein zweites Mal“. Ebenso mitleidslos nimmt Aubry die scheinheilige Welt der Elternfamilie ihres Vaters auseinander. Sein Hang zur Verwahrlosung, so vermutet sie, war nicht zuletzt ein verzweifelter Versuch der Abwendung von deren panischer Feindseligkeit gegenüber allem Fremdartigen – Obdachlosen, Verrückten, Immigranten und einfachen Arbeitern. Letztendlich scheitert er daran, einen lebbaren Gegenentwurf zu finden.

„Am Ende seines Lebens wollte mein Vater nichts sein“, schreibt Aubry, „seine Masken ablegen, seine Kostüme abstreifen, auf seine Rollen verzichten.“ Ob er im Tod – dem großen Gleichmacher, dem Nichts – seine Erlösung gefunden hat, wagt Aubry nicht zu behaupten. Doch zumindest nimmt sie diese Vorstellung als kleinen Trost an.

Gwenaëlle Aubry
Niemand
Übersetzung:
Dieter Hornig
Droschl
2013 · 152 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
9783854208433

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge