Liebesgeschichte auf Berliner Pflaster
"Venustransit" bezeichnet ein astronomisches Phänomen, bei dem die Venus aus Perspektive der Erde vor der Sonne vorbeizieht und als schwarzer Schatten erscheint. Dieses Phänomen tritt in unregelmäßigen Intervallen auf. Die Venus, benannt nach der römischen Liebesgöttin, steht in einem wechselhaften Verhältnis zur Hauptfigur der Graphic Novel von Hamed Eshrat. Astrologisch, nicht astronomisch, gesehen, ist die Venus bei Ben, dem Protagonisten, tatsächlich konstant im Transit. So zieht die Freundin von Ben gleich zu Beginn der Erzählung aus und verlässt ihren Freund, den Programmierer, der eigentlich gerne ein Zeichner wäre. Ben ist enttäuscht und weiß nicht, wohin mit sich. Hilfe findet er bei seinen Kumpels, die immer in Alis Späti rumhängen. Ali ist ein guter Gastgeber in seinem Spätkauf und bietet selbstgemachten Humus an. So einen Späti will man auch in der Nachbarschaft haben.
Der Späti, die Kumpels, der Vollzeitjob und die kreative Berufung: Eshrat nimmt sich die ganze Palette Haupstadtrealität vor und scheut keine Klischees. Die gleiche Geschichte, in einen Fließtext gepackt, wäre bei weitem nicht so stark wie die Bilder, in die der Zeichner seine Geschichte hüllt. Sein Stil schwankt zwischen gekritzelten Sketches und ganzseitigen Bildern, deren Detailreichtum ihre eigenen, kleinen Mikrogeschichten erzählen.
Als deutsch-iranischer Autor, geboren 1979 in Teheran, dem Jahr der iranischen Revolution, hat er sich bereits mit dem Thema seines Exils in einem auf Französisch erschienenen Band befasst. "Venustransit" ist damit sein zweiter Comic - und ein gewichtiger dazu, denn die Handlung spielt sich auf knapp 260 Seiten ab. Ein Comic-Wälzer also, der allerdings eine relativ dünne Geschichte erzählt. Banal geht es in Bens Leben weiter: die Trennung verkraftet er schwer, Freunde versuchen ihn abzulenken. Ben landet in der Nacht - natürlich, wo sonst, ist ja schließlich Berlin - im Berghain. Die Szene, in der Ben vor dem Berghain steht, er selbst als eher skizzenartige Figur, das Berghain selbst mit akzentuierterem Strich kommt mit ihrem industriellen Charme ganz zur Geltung. Im Berghain selbst erlaubt der Zeichner sich einen kleinen Kniff: dort, wo es nicht erlaubt ist, Bilder zu machen, gibt es auch keine Zeichnungen. Ben gibt seinen Kopf an der Garderobe ab und der Erzählfluss wird immer abstrakter, bis er schließlich nur noch aus Linien besteht. Die wahrscheinlich coolste zeichnerische Zusammenfassung eines Berghain-Abenteuers, ohne Frage. Am nächsten Tag wacht Ben verkatert auf, auch das obligatorisch.
Schließlich verschlägt es Ben nach Indien. Eigentlich will er mit der Reise Julia, seine Ex, wieder in sein Leben holen - aber die ist bereits mit einem Alex unterwegs und bei ihm eingezogen. Portraitiert der Comic zu Beginn noch sehr chirurgisch und genau die Dynamik einer sich auflösenden Beziehung, wirkt die Affäre mit Alex geradezu plump. Die Differenz zwischen plumpen, skizzierten Figuren und den feiner auspsychologisierten Charakteren könnte man als erzählerischen Kniff betrachten, aber irgendwie ist das hier stimmig. Es hat einen durchaus komischen Effekt auf den Leser, dass Alex so hohl daher kommt.
Ben landet also in Indien. Wir aber sehen keine einzige "echte" Zeichnung. Die Eindrücke aus Indien werden nicht in einem solchen Detailreichtum wiedergegeben, in dem in der restlichen Graphic Novel die urbane Berliner Landschaft portraitiert wird. Stattdessen: füllen die Mitte des Bandes grau abgesonderten Scans aus dem privaten Skizzenbuch des Autors. Seite um Seite, mit dem Lesezeichen sichtbar auf der Seite, offensichtlich ein Scan, sehen wir hier abstrakte Zeichnungen, Kritzeleien und Skizzen. Erzählerisch ist das erstmal ein harter Bruch, aber wer jetzt einfach die grauen Seiten überspringt und wieder in die Handlung zurück springt, der verpasst etwas. Tatsächlich entfalten sich in den Zeichnungen, auch dank der kleinen geschriebenen Kommentare, Mikrogeschichten, kleine Narrative entstehen, und bevor Eshrat sich die Blöße geben muss, die Fremde zu zeichnen und damit vielleicht sogar Exotismen einzubauen, überlässt er diesen Eindrücken die Aufgabe, dem Leser zu erzählen, wie das in Indien so war. Dass die Graphic Novel autobiographische Züge hat: klar, aber ist das so wichtig? Jemand hat hier seine Reisetagebuch für uns geöffnet.
Zurück in Berlin ist Ben, klar, wie ausgewechselt. Berlin ist auch nicht mehr der selbe Ort: Alis Späti wurde leider geschlossen, aber Ali ist noch immer wohl auf. Julia ist noch in der Stadt, aber eine neue Frau schleicht sich in Bens Leben. Und da ist noch der Komet: ein älterer Herr mit langen weißen Haaren und weißem Rauschebart, ein Phänomen des Berliner Nachtlebens, das hier in diesem Comic auftaucht. Als Figur wirkt er entrückt und kommt genau dann zum Einsatz, wenn die Handlung ihn braucht. Neben Berlins Landschaft und charakteristischer Fassaden, die Eshrat mit Vorliebe einblendet, ist der Komet eines jener Sprengsel Realität, die diese Erzählung paradoxerweise noch ein wenig mehr zum Märchen machen.
Hat man sich erstmal an die eher schroffen Figuren und die konkreten Stadtbeschreibungen gewöhnt, entwickelt "Venustransit" einen Sog. Auch wenn die Geschichte selbst recht banal bleibt und so oder so ähnlich schon oft erzählt wurde - dieser gezeichnete Nachfahre von Herrn Lehmann ist durch und durch sympathisch. Manchmal ist es so, als ob die Geschichte sich ihrer archetypischen Gestalt bewusst wäre. Ironisch bricht sich das dann in den wunderschönen Zeichnungen des zeitgenössischen Berlin, das selbst immer "im Transit" ist. Wenn aus dem Späti am Ende ein Bio-Späti wird und der Programmierer, der eigentlich Zeichner sein will, eine Kunstaktion plant, dann hält dieser erzählerische Move Berlin und seiner Realität geschickt gezeichnet einen humoristischen Spiegel vor. Alles in Allem: ein subtiler, komplexer Comic. Ein Comic für alle, die Bock auf Berlin haben.
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