Das Vermissen vermessen
Es beginnt eigentlich mit einem fast zum Klischee geronnenen Geschichten-Topos: Jemand geht Zigaretten holen und kommt nicht mehr wieder. So fängt auch der Udo Jürgens-Schlager „Ich war noch niemals in New York“, an es ist auch der Ausgangspunkt zahlloser Witze. Aus einem solchen Anfang muss man sich erst einmal frei schreiben. Hannes Köhler gelingt dies auf bemerkenswerte Weise. Zunächst einmal schildert er seine Geschichte aus einem sehr alltäglichen Moment heraus. Inmitten einer fröhlichen, angesäuselten und überhitzten Kneipenrunde geht Felix Kippen holen. Sogar sein T-Shirt lässt er zurück.
Mit Details wie diesem schafft es Köhler, diesem Moment alles Klischeehafte zu nehmen und ihn aufzufrischen, indem er ihn zu einem subjektiv erlebten Augenblick macht. Er erzählt seine Geschichte auch nicht aus der Perspektive des Verschwindenden, sondern der Zurückgebliebenen, insbesondere von Felix’ bestem Freund Jakob. Dessen anfängliche, eher sorglose Irritation, Felix werde wohl jemanden getroffen und bei ihm die Nacht verbracht haben, weicht mit der Dauer der Abwesenheit einer verzweifelten, geradezu besessenen Spurensuche. Schon der Romantitel “In Spuren“ deutet an, dass diese Suche nichts sporadisches hat, sondern stur wie auf Gleisen dem Freund nachfolgt.
Als Jakob Felix’ Tagebücher findet, bedeutet das nicht nur, dass er dort erstaunliche und ernüchternde Einsichten und Ansichten über sich und die Freundesclique entdeckt, sondern er erhält damit Einblick in das Denken und Fühlen von Felix und somit Zutritt zu Kopf und Herz. Er beginnt immer mehr, seine eigene Identität zu vernachlässigen und das Leben von Felix nachzufühlen bzw. nachzuahmen. Köhler schafft es, sehr plastisch darzustellen, was das Verschwinden einer Person mit den Zurückbleibenden macht. Über das reine Vermissen hinaus wird ein Loch auch in die eigene Persönlichkeit gerissen. Es ist wie in dem alten Hit „Sie ist weg“ von den Fantastischen Vier, wo es heißt: „Sie ist weg und hat mich mitgenommen“. Denn mitgenommen sind Jakob, Manja und die anderen Freunde auch – und das im doppelten Wortsinn. Für den existenziellen Ernst, der hinter Werten wie Freundschaft, Liebe und Sinn steckt, muss Köhler gar nicht das große Pathos aufrufen.
In kleinen Gesten und einer unprätentiösen Sprache fängt er die Traurigkeiten, die Identitätsbrüche ein. In einem „apropos“ passieren bei Hannes Köhler die entscheidenden Dinge in diesem Roman. Das gilt auch für das offene Ende und zeugt von einer erzählerischen Souveränität, die man bei einem Debütroman nur sehr selten findet.
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