Faktizität als Fantasy
Friedrich Kittler, Solitär in Medientheorie, Geisteswissenschaft, Philosophie, … – worin nicht? – steht im Zentrum der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau, die unter dem Titel »Dunkle Physis, lichter Kosmos« seines fünften Todestages gedenkt, und zwar in einer Reihe glänzender Texte verschiedenen Zuschnitts.
Texte aus dem Nachlaß, Gespräche mit Alexander Kluge, der aber auch einen eigenen Text beisteuert, Medientheoretisches von Jochen Hörisch, Poetisches von Grünbein, dazu ein neues Fragment von Sappho, was es ja auch nicht jeden Tag gibt: kurzum, ein beeindruckender Band.
Also Fragen nach dem Verbleib der Nymphen, Engführungen, subtile Kritik, etwa, ob verkündete Medienrevolutionen nicht „die fließenden Übergänge” bagatellisierten, die es trotz Typewriter & Co. doch gebe, Fragen der Phantastik, die sich aus Medien speise, wie eine der beiden Herausgeberinnen von Baggersee und Kittler selbst an Dracula entwickeln1, Lektüren der „Heresiarchen” Borges’ mit Kittler, dazwischen Archivmaterial, Deutungen, die bei Kittler als „Geschichten erzählend(em)” beginnen, Vereinzelungen („Singulariatanta”) in der Theorie und solche des Theoretischen selbst, …
… bis hin zu Diskontinuitäten im Werk („Kittler I und II”), seinen Heidegger-Lektüren, die dessen Bedeutung zeigen, aber auch als Kritik sich bewähren, „Technik […] positivieren wollen”, wider die „Physikvergessenheit” (Seitter), wobei auch Kittler dann zuweilen im Schwelgen von „unbefangener Heterosexualität” seltsame Eigentlichkeitsphantasmen hervorbrachte. – Allerdings:
„Wichtig ist, dass er eigentlich bei allen Irrtümern extrem unbeirrbar war, und das halte ich für keinen Irrtum.”
Was sich dann in der Konsequenz und zugleich doch Beweglichkeit Kittlers zeigt, wenn er wie angedeutet mit Kluge spricht: über lokale Intelligenz etwa: „Vor Ort müssen Facharbeiter stehen”, wie es vom Krieg heißt, der dann in den Körper übergeht, jedenfalls diese Expertise im Lokalen, wo „die Langsamkeit der alten evolutionären Intelligenz und die der schnellen neuen durchfließenden zu vermischen” wären… Phantastik aus episteme, aus Technik … bis in die eigenwillige Art, wie dessen „Fußnoten als Fußtruppen im Streit ums Sein” agieren, so Hertweck zu Kittler: „Faktizität als Fantasy.”
Man ahnt: Zu einem Ende kommt man bei Kittler nicht so rasch … und mit diesem Band ebensowenig, der ihm wunderbar entspricht. Geduldige werden reichst belohnt, mit spannenden Ideen und wunderbaren Textgefügen.
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