Skizzen, Vorarbeiten & Studien
Daß an Karl Mays späten Werken literarisch mehr dran ist, als das abenteuerlustige Auge des junggebliebenen Lesers auf Anhieb erkennt oder dem ehemaligen Kolportageschriftsteller und aufschneiderischen Reisefabulierer überhaupt zutraut, ist seit Arno Schmidts Rundfunkessay „Vom neuen Großmystiker“ (1956) und spätestens der großen Studie von 1963, „Sitara und der Weg dorthin“, nicht mehr abzustreiten. Hans Wollschläger, der als freier Mitarbeiter des Bamberger Karls-May-Verlags in den Sechziger Jahren noch Zugang zu den Handschriften und Dokumenten hatte und 2007 eine kritisch edierte Ausgabe von „Ardistan und Dschinnistan“ vorlegte, gelangt indessen zu vollkommen anders gewichteten Ergebnissen als sein Mentor Arno Schmidt, dem er einige Male explizit, wohl aber aus Respekt nicht im Detail, sondern eher summarisch widerspricht. (Wollschlägers — sehr entspannte — Beurteilung des Verhältnisses von Schmidt zu May findet sich in „Die Insel und einige andere Metaphern für Arno Schmidt“ im Rahmen der Schriften in Einzelausgaben.)
Man muß Wollschlägers psychoanalytische Deutung nicht insgesamt teilen, um anhand der vielen Einzelbeobachtungen und Zitate vor allem aus den genauer ins Visier genommenen Bänden des Spätwerks — nämlich: „Im Reiche des Silbernen Löwen III/IV“, „Am Jenseits“, „Ardistan und Dschinnistan“ und die Autobiographie „Mein Leben und Streben“ — die These bekräftigt zu finden, daß Karl May sich mit jedem neuen Buch eine seelische Verwundung aus frühester Kindheit und die spätere Erniedrigung als Zuchthäusler vom Leib zu schreiben versuchte und letztlich mit diesem Unterfangen höchst produktiv scheiterte.
Denn es ist, so weit wir uns in der Geschichte der Kreativität umsehen, wirklich ohne Parallele: dieses Schicksal, das ein Kind über die gesamten vier Jahre seiner seelischen und geistigen Grundentwicklung hin blind sein ließ — und das unter Sozialverhältnissen, die keinerlei Kompensation dafür bereitstellten.
Mit jedem neuen Buch begann ein weiterer Verarbeitungsprozeß, der zum gültigen Werk führen sollte, so daß May alles Vorhergehende als „Skizzen und Vorübungen“, als „Vorstudien für seine eigentlichen Werke“ betrachtete. Immer wenn er glaubte, an einem dieser gültigen Werke zu schreiben, erkannte er, durchaus sensibel und selbstkritisch, daß er seine Absichten verfehlt hatte. Doch weiterschreiben hieß, die Zukunft lebbar zu machen. Hat May also ein einziges umfängliches Werk des Scheiterns vorgelegt?
Selbstverständlich ist sich Wollschläger der stilistischen und kompositorischen Schwächen der Werke Mays durchaus bewußt — und wer wäre das angesichts der vielen Dialog-„Seitenfüller“ nicht! —, erhebt aber, wie schon vor ihm Arno Schmidt, zumindest das Spätwerk in den Rang der Hochliteratur. Die Erklärung, die Wollschläger bietet, ist einfach und durchaus plausibel: die symbolische Darstellung bzw. Überhöhung des Geschehens, der Topographie und des Personals, die ein persönliches Schicksal zu einer Menschheitsfrage, zur „Lebens- und Sterbensphilosophie“ ausweitet, dabei jedoch doppelbödig und voller Falltüren erscheint:
Fast möchte man sagen, daß die Symbolik selbst diese ‚Mission’ gehabt hat: die Wahrheit, die sich in ihr aussprach, zu verhüllen und zu entstellen; daß die Einkleidung in das Gewand des Märchens, der May soviel Gewicht beimaß, eine V e r kleidung ist [...].
Die hier als elfter Band der „Schriften in Einzelausgaben“ gesammelten Essays zu Karl Mays Spätwerk sind eine unverzichtbare Ergänzung zu der in dieser Reihe ebenfalls vorliegenden Neuauflage der Karl-May-Biographie, dem „Grundriß eines gebrochenen Lebens“, wie immer wortscharf und gedankengeschliffen, auch wenn Wollschläger an einigen wenigen Stellen der Problematik mit Superlativformeln oder einer dilatorischen Geste ausweicht, die auf künftige (dann allerdings nie geschriebene — oder nie publizierte? —) Arbeiten verweist. Wollschläger- und Karl-May-Leser werden jedoch allemal auf ihre Kosten kommen und vieles aus der Feder des Radebeuler Meisterfabuliers, der sich selbst gerne als Märchenerzähler sah und stilisierte, neu und anders sehen.
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