Sie küssten und sie schlugen ihn
Zu Beginn des Romans Ein wenig Leben der amerikanischen Autorin Hanya Yanagihara fotografiert der Künstler Jean- Baptist, genannt JB, seine drei Freunde Willem, Malcolm und Jude. Aus den Fotos sollen Gemälde entstehen, in denen er das Dahinschreiten ihrer Leben in Bildern festhalten möchte. Dies wird er fast vierzig Jahre lang machen und in Ausstellungen präsentieren. So ziehen sich die Bilder der Freunde in verschiedenen Altersstufen und in unterschiedlichen Konstellationen wie ein roter Faden durch die Geschichte. Diese erinnert mich an Javier Marías Romantitel So fängt das Schlimme an, nur dass bei Marías das Schlimme dann kommt, wenn man das Schlimmste hinter sich hat und es bei Hanya Yanagihara umgekehrt ist.
Als ich den Roman mit seinen 958 Seiten in den Händen hielt, war ich skeptisch, ob er über eine so lange Strecke die Spannung aufrecht halten kann. Aber ich war von Anfang an bis zum Schluss hineingezogen.
Es wird nämlich bereits im ersten Teil bei den Szenen im College deutlich, dass es bei der eigentlichen Hauptperson Jude in Bezug auf seine Herkunft und in seinem bisherigen Leben etwas Schreckliches gegeben haben muss.
…Jude mit seinen nichtexistenten Eltern (es war ein Rätsel – sie kannten Jude nun schon seit einem Jahrzehnt und wussten noch immer nicht genau, ob er überhaupt einmal Eltern gehabt hatte, nur dass irgendetwas im Argen lag und nicht darüber gesprochen werden durfte.)
Nach der Collegezeit in Cambridge machen alle vier nach anfänglichen Schwierigkeiten steile Karrieren in New York: JB, der von einer großen Familie umsorgte Sohn von Einwanderern aus Haiti wird ein bekannter Künstler, der irgendwann seine Gemälde in der MoMa ausstellt. Malcolm stammt aus einer vermögenden afroamerikanischen Familie und hat als Architekt große Erfolge. Willem hingegen wuchs auf einer ärmlichen Farm in Wyoming auf. Zu seinen verstorbenen Eltern hatte er ein gespanntes Verhältnis, weil er ihnen vorwirft, sich nicht genug um seinen behinderten jüngeren Bruder gekümmert zu haben. Willem wird ein weltberühmter Schauspieler. Und dann gibt es schließlich Jude, der als brillanter Jurist bald in einer mächtigsten Kanzlei arbeitet, wo er alle seine Prozesse gewinnt.
Vor der sinnlich beschriebenen Kulisse New Yorks werden in wechselnden Perspektiven mit zahlreichen Vor- und Rückblicken die Leben dieser vier Männer beschrieben, die, so unterschiedlich sie zeitweise leben und die sich ab und zu zerstreiten, immer wieder zusammenkommen.
Im Mittelpunkt ihrer gemeinsamen Geschichte steht Jude. Er gibt sich alle Mühe, sein Leben mit den Freunden bei gemeinsamen Essen, Reisen, alltäglichen Dingen zu teilen, wobei ihm Willem am nächsten ist. Aber nach und nach erfährt man mehr Details über Judes Vergangenheit. Nicht nur, dass er sich ritzt und seine Arme von so tiefen Schnitten überzogen sind, dass sein Arzt Andy ihm öfters unterstellt, er wolle sich umbringen. Jude glaubt, diese Verletzungen zu brauchen.
Wenn er eines Tages auf magische Weise geheilt wäre und so frei von jeder Befangenheit gehen könnte wie Willem oder JB, wenn er sich in seinem Stuhl zurücklehnen und frei von Angst sein T-Shirt über seine Hüfte hinaufrutschen lassen könnte und seine Arme so glatt wie ein Zuckerguss wären wie die Malcolms, was wäre er dann noch für Andy? Wer wäre er für die anderen. Würden sie ihn weniger mögen? Mehr? Oder müsste er feststellen – wie er es oft befürchtete -, dass das, was er für Freundschaft hielt, in Wahrheit nur auf Mitleid für ihn beruhte? Wie viel von dem, was ihn ausmachte, war mit dem verschränkt, was er nicht tun konnte? Was wäre er ohne die Narben, die Schnitte, die Schmerzen, die Wunden, die Knochenbrüche, die Infektionen, die Schienen und Ausflüsse?
Von Beginn an gibt es für den Leser Hinweise. Da ist von einem Pater Luke die Rede, von einem Dr. Traylor, der wegen dem, was er Jude angetan hat, ins Gefängnis musste. Bald versteht man, dass Jude von Mönchen, die das Findelkind aufgezogen haben, ständig missbraucht und heftig geschlagen wurde, dass aber auch später, als er ausriss, sein Leidensweg nicht zu Ende war. Dies alles hat nicht nur seinen Körper ( er hinkt, braucht später einen Rollstuhl, hat permanent Schmerzen), sondern auch seine Seele so stark verletzt, dass er sein Leben lang Angst hatte, verraten zu werden und nicht glauben konnte, jemand nehme ihn mit all seiner Vergangenheit an. Was sich hier in ein paar Sätzen zusammenfassen lässt, wird im Roman mit einer Heftigkeit und Ausführlichkeit dargestellt, dass man jedes Mal denkt, schlimmer geht es nicht, aber man hat sich getäuscht.
In einem Interview mit dem Guardian hat Hanya Yanagihara gesagt, ihr Lektor habe sie gebeten, die Stellen, die sich mit Judes Missbrauch beschäftigen, etwas abzuschwächen und zu kürzen. Sie habe sich aber geweigert, weil es ihrer Meinung nach zu nichts führe, darüber zu spekulieren, was ein Leser aushalten würde und was nicht. Aber, so übertrieben sie Gewalt und Sexszenen dargestellt habe, als Antithese beschreibe sie ebenso ausgiebig Liebe Freundschaft und Empathie.
In der Tat sorgen sich die Freunde, zu denen man auch Andy und ein Ehepaar zählen muss, das Jude sogar adoptiert hat, Tag und Nacht um ihn. Sie schlafen bei ihm, wenn er krank ist oder sie fürchten, er mache einen weiteren Selbstmordversuch. Jude dankt es ihnen nicht immer, er, der voller Selbstverachtung und Selbsthass ist, kann nicht glauben, dass die Fürsorge der Freunde mehr als Mitleid ist.
Immer wieder gelingt es Hanya Yanagihara die Innenwelt ihrer Figuren bildhaft zu zeigen. Es gibt eine schreckliche Szene, in der Jude von einem ehemaligen »Liebhaber« brutal zusammengeschlagen wird. Jude hat außer Jura auch Mathematik studiert und sieht in dem Gleichheitsaxiom »x entspricht immer x« sein Leben widergespiegelt.
Doch nun weiß er mit Bestimmtheit, wie wahr das Axiom ist, weil er es mit seinem eigenen Leben bewiesen hat. Der Mensch, der ich war, wird immer der Mensch sein, der ich bin, begreift er. Der Kontext mag ein anderer sein: Er mag in dieser Wohnung leben und er mag einen Beruf ausüben, der ihm Freunde bereitet und in dem er gut verdient, und er mag Eltern und Freunde haben, die er liebt. Er mag respektiert sein; im Gerichtssaal mag er sogar gefürchtet sein. Doch im Grunde ist er derselbe Mensch, ein Mensch, der in anderen Abscheu hervorruft, ein Mensch, der existiert, um gehasst zu werden.
Ein Kapitel gibt es, das Die glücklichen Jahre heißt. Willem ist dauerhaft zu ihm gezogen und zwischen den beiden entwickelt sich eine in ihrer Art kaum vorstellbare, sehr enge Liebesbeziehung Denn obwohl Jude vor jeder körperlichen Berührung zurückschreckt und panische Angst vor Sex hat, wünscht er sich Nähe, ein wenig normales Leben.
Diesmal hält er die Augen geschlossen, stellt sich vor, dass auch er bald dorthin gelangen kann, wohin andere Menschen gehen, wenn sie sich küssen, wenn sie Sex haben: in dieses Land, das er nie betreten hat, an diesen Ort, den er sehen will, in diese Welt, von der er hofft, dass sie ihm nicht für immer verschlossen bleibt.
Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel. Die Liebesgeschichte zwischen Willem und Jude sowie die Art der Freundschaften zwischen den Protagonisten sind tatsächlich fast utopische Gegenentwürfe. Ein wenig Leben, sagt der Klappentext, ist zugleich realistischer Roman und Märchen. Was nicht heißen muss, dass alles gut ausgeht.
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