Wer lebt, stört
„Das Tödliche ist von jetzt an Ihr Begleiter“ – mit schonungslosen Worten stößt Heike Geißler ihre Leserschaft hinein ins Weihnachtsgeschäft bei Amazon. Widerstand ist zwecklos. Die Autorin und Übersetzerin ist fest entschlossen, das jetzt durchzuziehen, und zwar mit uns als Komplizen. Da hilft nur eins: Augen zu und durch. So dachte sich das Geißler wohl auch am Anfang ihrer geldnotbedingten Aushilfstätigkeit. Doch dann beschloss sie, die Augen offen zu halten und sich im Bauch des weltgrößten Internet-Versandhandels einmal gründlich umzuschauen. Herausgekommen ist „Saisonarbeit“, eine genresprengende Mischung aus Essay, Prosa, Suada und Reportage, die sich allein schon vom Format her jeder Verwertungslogik entzieht.
Ob man es der Autorin abnehmen soll, dass ein Loch in der Haushaltskasse sie zu Amazon trieb, sei dahingestellt. Dass sich Geisteswissenschaftlerinnen mit ausgezeichneten Universitätsabschlüssen oftmals im Niedriglohnsektor wiederfinden, ist allerdings bittere Realität. Und die hat Geißler auf brillante Weise abgebildet – zugespitzt zu einer höchst luziden Reflexion über die moderne Arbeitswelt.
Wir lassen uns also willig hinein saugen in die von der Umwelt hermetisch abgeschottete Versandhalle in der Leipziger Amazonstraße. Eine Parallelwelt, die sich in etwa so anfühlt wie das Lebkuchenhäuschen der bösen Hexe im Märchen, und die zugleich die realen Verhältnisse unserer Arbeits- und Konsumwelt so kristallklar widerspiegelt wie sonst kaum etwas.
Los geht es mit einer Schulung, in der zunächst die flachen Hierarchien erklärt („Wir duzen uns alle von unten nach oben, so ist das hier bei uns“) und dann – natürlich ironisch – Strafliegestützen angedroht werden, wenn jemand zu langsam arbeitet oder vergisst, den Handlauf zu benutzen. Keine drei Tage später stehen „Sie als ich“ auch schon zwischen den endlos langen Regalreihen, receiven und verpacken im Akkord und scannen Bücher um Bücher, weil Sie vom Schreiben Ihrer eigenen Bücher nicht leben können.
Geißlers Bericht ist unterschwellig zornig, aber auch von einer selbstironischen Leichtigkeit getragen. Immer wieder steht die Erzählerin in ihrer zu großen grellorangen Warnweste in der Gegend herum und lächelt entschuldigend ins Nichts, während sie sich innerlich fragt, wie ihr die Sabotage des Systems zumindest im Kleinen gelingen kann. Oftmals fehlt ihr der Mut oder die Schlagfertigkeit zum unmittelbaren Protest. Daher betreibt sie ihre Subversion im Stillen, indem sie beispielsweise die Arbeit durch Denkpausen verzögert. Anstatt Abläufe zu optimieren, ihr Hirn und ihren Körper dem Zeitsinn unterzuordnen, macht sie sich Gedanken über den Fetisch „Arbeit“ bei Hannah Arendt oder René Pollesch, über die Geldzirkulation bei Gertrude Stein oder die Arbeiterhände ihres Vaters. „Ich hatte immer angenommen, er habe einfach solche Hände gehabt, ich war nie auf die Idee gekommen, dass diese Hände durch seine Arbeit entstanden sein könnten“, wird ihr plötzlich bewusst – und damit auch, wie sehr wir alle durch unsere Arbeit geformt werden. Durch derlei Überlegungen weist der Essay weit hinaus über eine Beschreibung der Zustände bei Amazon, sondern richtet sich viel umfassender gegen die neoliberale Logik der Selbstausbeutung. Eine Dynamik, der die Erzählerin natürlich nicht nur als Amazon-Saisonkraft, sondern genauso auch als freischaffende Autorin unterliegt.
An sich selbst konstatiert die Erzählerin, wie schnell und unbemerkt die Prozesse und Anforderungen der neuen Tätigkeiten in ihren Körper eingehen und ihren Geist infizieren. Bereits nach wenigen Wochen entwickeln ihre Muskeln ein Gedächtnis für die fließenden Bewegungen, mit denen Qualitätsprüfung, Receiven und Verpacken in einem einzigen zeitoptimierten Ablauf ausgeführt werden sollen. In der knapp bemessenen Mittagspause schaufelt sie nun das Essen ebenso schnell in sich hinein wie sie es anfangs bei ihren älteren Kollegen mit Erstaunen und Abscheu beobachtet hat. Firmeninterne Ausdrücke und resignierte Durchhalteparolen schleichen sich selbstverständlich in ihren Wortschatz und damit auch in den Text ein. Selbst beim Arzt sitzt der Arbeitgeber nun unsichtbar neben ihr: „Sie befinden sich wirklich in einer Prüfung, in einem Bewerbungsgespräch um einen Krankenschein.“
In dieser Gesamtdurchdringung des Lebens also liegt das am Anfang so hart hingeknallte „Tödliche“, das wir zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch für übertrieben hielten. Nach der Lektüre von „Saisonarbeit“ wird mehr als deutlich: Es ist die Lebenszeit selbst, die der Arbeitgeber in gesteigerte Produktivität übersetzt sehen will, dem Arbeitnehmer aber zwischen den Fingern zerrinnt. Geißlers Sprache wird dringlicher, je mehr die Erschöpfung von ihr Besitz ergreift; gegen Ende gerät der Text zu einer veritablen Tirade gegen die Geduld und das Durchhalten. Um jeden Preis müssen die Störgeräusche des Menschlichen (wie beispielsweise Familie, Freunde und Freizeitaktivitäten) in die Arbeitswelt hineingetragen anstatt von ihr ferngehalten werden. Frei nach Elfriede Jelineks Ausspruch: „Wer lebt, stört.“
Durch die permanente Vermischung und Wiederauflösung von „ich“ und „Sie“ wird der Leser dazu gezwungen, den inneren Kampf zwischen Anpassung und Subversion in jedem Moment auch im eigenen Kopf durchzuspielen. „Wir gehen nicht aus dem Buch, ohne dass Sie gehandelt haben werden“, verspricht Geißler – und spielt damit ihrer Leserschaft die volle Verantwortung dafür zu, das eigene Lebendig Sein Tag für Tag zu verteidigen.
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