Hörrohre für die Sprache der Götter
Unüberhörbar zynisch bemerkte der amerikanische Dichter A.R. Ammons in seiner „Ars Poetica“ von 1975: „Die Götter (für / die ich arbeite) sind / erfrischende Realisten: // sie lassen dich ins / Paradies (das ist / die beste Bezahlung — “ Unbewußt konterkariert diese Abrechnung mit Verlegern und Kritikern eines der ältesten Ziele der Dichtung: die poetische Anrufung von Göttern, deren Gnade erfleht wird. Auch wenn die Ziele der Dichtung nachfolgender Zeiten verständlicherweise andere sind, greifen sie auf verschiedene tradierte Mittel zurück, die auf den ersten Blick nicht immer als solche zu erkennen sind. Was haben Zauberspruch und Dichtung gemeinsam? Warum enthalten Lieder wiederkehrende, leicht zu memorierende Elemente? Worin bestehen die ursprünglichen Funktionen von Reim und Rhythmus? Und warum hat sich die moderne Dichtung von ihnen emanzipiert? Diese und ähnliche Fragen stellt und beantwortet der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer in seinem Essaybuch „Geistersprache“, das alle Voraussetzungen eines zukünftigen Klassikers erfüllt: stilistisch brillant geschrieben, durchdacht, voll stupender Gelehrsamkeit, die dennoch niemals akademisch trocken oder schwer verständlich daherkommt.
Schlaffer entwickelt seine Thesen aus einer ebenso einfachen wie bedenkenswerten Beobachtung: Die Sprache der Lyrik weicht vom sprachlichen Alltagsgebrauch und selbst noch von der erzählenden Romanprosa in auffälliger Weise ab, sie ist „eine apart geformte Ausnahme von der üblichen Art zu reden und zu schreiben“. Warum also Metrum, Reim und Strophe? Ganz sicher nicht, stellt Schlaffer bereits einleitend klar, um den Überschwang der Empfindungen und Erfahrungen in einer festgefügten Ordnung zu bändigen, wie es die „psychologisierenden Poetiken der Aufklärung“ suggeriert haben — eine These, die bis heute ihren zweifelhaften Nachhall hat, wenn es im Volksmund um die Erklärung geht, welchen Zweck denn das lyrische Sprechen und Schreiben überhaupt verfolge.
Die Mittel der Lyrik entsprangen dem ursprünglichen Zweck lyrischen Sprechens: „die Götter gnädig stimmen, Krankheiten heilen, Missernten abwenden, den Feinden schaden“. Diese These mag provokant für all jene klingen, die heute das Gedicht um des Gedichtes willen bewundern oder allein aus seiner Form heraus erklären wollen. Doch Heinz Schlaffer führt im Verlauf seines Essays gute Argumente ins Feld, dies nüchterner und praktischer zu betrachten, ohne allerdings die ästhetische Dimension zu verleugnen, die nämlich dem Gedicht nach wie vor innewohnt. Das Gedicht war die Anrufung von Göttern oder anderen numinosen Wesen, den Geistern, zu denen man auch die zu beschwörenden Dinge oder die zu bezaubernde unerreichbare Geliebte zählen muß. Damit ist das Gedicht verwandt mit dem Gebet, das eine ähnliche Funktion erfüllt.
Anrufung, Beschwörung, Bitte fanden in einem ritualisierten Rahmen statt, das machte eine andere, dunkle, überhöhte Sprache notwendig, die sich der Sprache der Götter annähert, mit denen man kommunizieren wollte. Daraus ergaben sich gewisse formale Kriterien, die als Merkmale der Lyrik auch nach dem Verschwinden ihrer ursprünglichen Funktion und Bedeutung beibehalten wurden. Zum Beispiel das Metrum, das sich aus dem kultischen Tanz herleitet, und später der Reim, der Klang, der als kleinste dichterische Einheit dem Zuhörer eine memorierende Wiederholung dort erleichtert hat, wo das Gedächnis des Körpers, das heißt: die tanzenden Füße, nicht mehr statthaft waren, wie vor allem im christlichen Gottesdienst.
An zahlreichen Beispielen verdeutlicht Schlaffer, wie bestimmte Merkmale des Gedichts im Laufe der Jahrhunderte ihre archaische Bedeutung verloren haben und unter anderen Prämissen beibehalten wurden, bis auch deren Konventionen in der Moderne zerstört oder zumindest unterwandert wurden — denn Schlaffer spürt in der modernen Dichtung allerhand Spuren jener einstigen Mittel und Zwecke auf. Nur wo die Lyrik des 20. Jahrhunderts sich auch von diesen gelöst hat, wird Schlaffers Argumentation sparsamer, und man möchte ihm nicht in jedem Detail seiner Interpretationen folgen. Auch ist es sicherlich nicht grundsätzlich richtig, daß das moderne Gedicht sich nicht nur der Gemeinschaft entziehe, der es einst diente, sondern sich auch vom einzelnen, um Verständnis bemühten Leser abwende; und daß der Dichter ein Selbstgespräch führe, als „der letzte Repräsentant jenseitiger Geister in einer entgeisterten Welt“.
Das schönste Paradox präsentiert Schlaffer, indem er nicht zu Unrecht konstatiert, daß zwar „an die Stelle der kollektiv anerkannten und verstehbaren Sprache der Poesie [...] in der modernen Lyrik eine Vielzahl von Privatsprachen getreten“ sei, gerade dadurch aber eine moderne Entsprechung zur archaischen Geistersprache entstanden ist, die abzulegen die Moderne bemüht gewesen war: Dichtung bleibt als Dichtung ihren Zwecken verhaftet, auch wenn die Vorzeichen wechseln.
Schlaffers These über die Andersartigkeit des lyrischen Sprechens erklärt zuletzt auch die mangelnde Aufmerksamkeit, die Dichtung heute erlebt: „Vielleicht hat wegen des Verdachts, soziale Distinktion zu befördern, das Interesse an Lyrik in den letzten Jahrzehnten nachgelassen, in der deutschen Kultur besonders, zu deren Programm der Abbau elitärer Haltungen gehört.“ Das ist wiederum provokant und zudem politisch unkorrekt formuliert, aber sicherlich nicht von der Hand zu weisen.
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