Heitere Himmel, schweigende Steine
Trébabu – ein Name, den man auf den meisten Landkarten von Frankreich vergeblich sucht. Klingt nach einem geheimnisvollen Ort, den man mit Märchengestalten wie dem Zauberer Merlin oder der guten Fee Melusine verbindet. Aber der Ort ist eher mit einer sehr realen Gestalt verbunden: dem Dichter Paul Celan, der als der bekannteste jüdische Nachkriegsdichter deutscher Sprache gilt. Er übersetzte das Grauen der Konzentrationslager in rätselhafte Poesie, die bei seinen Zeitgenossen nicht immer auf Verständnis stieß. Zu seinen berühmten Werken zählen die frühen Gedichte Der Sand aus den Urnen (1947), Todesfuge (1952), später die Niemandsrose (1963) und Atemkristall (1965).
Der Literaturkritiker und Autor Helmut Böttiger ist auf Celans Spuren nach Trébabu gereist, in eine Bretagne, in der die Zeit fast still zu stehen scheint. Celan reist im Sommer 1960 an Frankreichs Westküste. In einem Brief an Nelly Sachs schreibt er: »Wir sind seit acht Tagen in der Bretagne, unter heiteren Himmeln, in einem kleinen Häuschen am Rande eines riesigen und auf das menschen- weil hasenfreundlichste verwilderten Parks. Das Meer ist nahe, die Menschen, denen wir begegnen, einfach und freundlich.
Ungewohnt fröhlich klingen diese Worte des Dichters, dessen Verse oft von Schwermut sprechen. Versteht man Gedichte besser, wenn man das Leben und die Wege ihres Schöpfers kennt? Der Titel des Buches Wie man Gedichte und Landschaften liest. Celan am Meer deutet das an. Aber Böttigers literarischer Essay ist alles andere als eine akademische Anleitung zur Interpretation. Vielmehr verflechtet er seine eigene Reise durch die heutige Bretagne mit der vergangenen Zeit, die Paul Celan hier verbracht hat, zu einer poetisch anmutenden Erzählung
Ausgehend von realen Orten entwirft Böttiger eine imaginäre Kartographie der Sprache Celans. »Wir sind im Celan-Land, aber wir wissen nicht, wo es beginnt, wo es endet, wo es existiert, es ist ein Wörterland – eine entlegene, stille, wild bewachsene Landschaft«, schreibt er in Celan am Meer. Es ist Helmut Böttigers zweites Buch über Celan
Bereits für Orte Paul Celans ist er der Fährte des Dichters gefolgt und hat eine Reise mit vielen Stationen quer durch Europa unternommen. Beginnend an Celans Geburtsort Czernowitz, der damals in Rumänien lag, heute aber zur Ukraine gehört, wo Celan 1920 in einer deutschsprachigen, jüdischen Familie als Paul Antschel zur Welt kam. Weiter geht es über Bukarest und Wien bis nach Paris, wo Celan von 1948 bis zu seinem Freitod 1970 lebte.
Paul Celan reiste mit seiner Frau, der Künstlerin Gisèle de Lestrange, die er 1951 in Paris kennen gelernt hatte, mehrere Male in den Nordwesten Frankreichs. In der Bretagne, die Böttiger in Celan am Meer beschreibt, hat der Reisende das Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein. Auch wenn er weiß, dass die Erde keine Scheibe ist.
Das Département Finistère, in dem Trébabu liegt, ist der westlichste Zipfel Frankreichs, der in den Atlantik hineinragt. Daher bekam es auch den Namen Finis Terrae (Ende der Welt), obwohl der ursprüngliche bretonische Name Penn ar Bed (Anfang, Spitze oder auch Haupt der Welt) lautete. Le-Pen-Ar-Bed heißt auch die ländlich urige Kneipe im nächstgelegenen Ort Le Conquet, die Böttiger in seinem Buch beschreibt.
Im Mittelpunkt von Böttigers Erzählung stehen zwei längere Aufenthalte Celans in den Sommern 1960 und 1961. Es waren spannungsreiche Jahre im Leben des Lyrikers. 1960 erhielt er den Büchner-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung in Deutschland. Gleichzeitig warf ihm die Witwe des Dichters Yvan Goll vor, bei ihrem Mann abgeschrieben zu haben. Die Feuilletons machten daraus einen Skandal.
Erst mit der Zeit stellte sich heraus, dass Celan nicht bei Goll, sondern Goll bei Celan abgeschrieben hatte. Diese so genannte »Goll-Affäre« sollte Celan bis ans Ende seines Lebens verfolgen. In seinen Augen verband sich die Affäre mit antisemitischen Tendenzen, denen er bei seinen Besuchen in Deutschland begegnete.
Fernab des Literaturbetriebs, in einem Nebenhaus des Schlosses Kermorvan bei Trébabu hoffte das Ehepaar Celan, zu sich selbst zu finden. Helmut Böttiger macht deutlich, dass in dieser Zeit der Rückzug in eine künstliche Sprache symptomatisch für Celans Poesie wird, eine Sprache, die einen Raum schafft, der nur noch dem Dichter allein gehört und sich der Interpretation entzieht. Er stellt zunehmend Fachbegriffe aus der Botanik, Zoologie und vor allem der Geologie in einen poetischen Zusammenhang, um sich mit diesen unbesetzten Worten in seiner durch die Nazis korrumpierten deutschen Muttersprache wieder zu Hause fühlen zu können.
Die felsige Landschaft in Finistère findet in Celans Sprache ihren Widerhall. In die Landschaft hineingewachsen erscheinende Megalithen sind überall in der Bretagne zu finden, verweisen auf Jahrtausende alte Kulturen und bleiben von Geheimnissen umwoben. Der berühmte Menhir von Kerloas bei Saint-Renan beispielsweise hat Celan zu seinem Gedicht Der Menhir inspiriert, dem Böttiger ein ganzes Kapitel widmet.
»Der Menhir steht an der Stelle des Herzens« und kann, glaubt man Böttiger, auch als Metapher für die Gedichte Celans gelesen werden, schreibt er doch in Orte Paul Celans, dessen Gedichte stünden im zwanzigsten Jahrhundert da wie ein Monolith.
Helmut Böttigers Herangehensweise erweist sich als gelungener Brückenschlag zwischen der Biographie Paul Celans, seinen auf den ersten Blick schwer zugänglichen Gedichten und der spröden aber auf den zweiten Blick wunderschönen Landschaft der Bretagne. Wer noch nicht dort war, findet hier eine lebendige Einladung zur Reise in Celans Wörterland. Und wer die Bretagne zu kennen glaubt, kann sie mit diesem Buch durch die Augen des Dichters vielleicht sogar neu entdecken.
Die Gedichte, die 1961 in der Bretagne entstanden, bilden den dritten Zyklus des Gedichtbandes Die Niemandsrose und wurden, so Böttiger, »von den Heerscharen akademischer Interpreten eher ratlos links liegen gelassen«. Der bretonische Dichter Koulizh Kedez übersetzte Paul Celan ins Bretonische und schrieb eine Hommage an den Dichter, dessen Sprache dem Bretonischen näher sei als die französische Lyrik. Diese bretonische Hommage hat Raoul Schrott wiederum ins Deutsche übertragen, und so kehren die Worte auf verschlungenen Pfaden zurück in die deutsche Sprache. Die Hoffnung Celans, seine Gedichte könnten wie eine Flaschenpost »irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht«, scheint sich hier zu erfüllen – in Finis Terrae, dem Ende, oder auf bretonisch: dem Anfang der Welt.
Fixpoetry 2010
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben