Die Unmoral ethischer Dilemmata
Gegenwärtig ist es in Mode, etwas, das man mit Ethik verwechselt, Schülern und Studierenden durch „moralische Dilemmata” zu vermitteln, zum Beispiel jenem, daß man warum auch immer an einer Weiche sitzt, als ein nicht aufzuhaltender Waggon naht: Menschengruppen verschiedener Größe (oder auch Qualität) sind auf den beiden Gleisen, doch außerhalb der Hörweite. Und nun darf man – ethisch? moralisch? – entscheiden, welcher Menschengruppe man den Vorzug gebe, welche umkommen dürfe. Ethisch ist so die „Ergebung ins Unvermeidliche”; und „Ergebung ins Unvermeidliche wird zu dessen Empfehlung”, wie Adorno etwas formulierte, das nun aber so ganz und gar nicht moralisch ist.
Diese Dilemmata lehren also, im Rahmen zu verharren, sich mit virtuellen Wahlmöglichkeiten zu begnügen oder abspeisen zu lassen, anstatt sich diesen zu entziehen. Das war mir klar, nachdem ich vor nun wohl zwanzig Jahren Adornos Essay um Wien und dessen spezielle Moira gelesen hatte; und ich dachte seinerzeit, das verstehe jeder. Offenbar irrte ich, schon gar nicht ist es heute vielen klar. Hofbauer aber sieht und zeigt es.
„Ethisches Handeln findet statt, wenn der Mensch in keinem moralischen Dilemma steckt”, schreibt Helmut Hofbauer – und mit diesem Satz war meine Neugier geweckt, hier schrieb einer gar, daß das Dilemma „selbst unethisch” sei. Na endlich..! So kam ich zur Lektüre der Moralk-Eulen, eines Buches, das ernster und übrigens auch witziger als sein kalauernder Titel ist. Es erklärt vollmundig, daß es zwar über Dilemmata nicht zu sagen wisse (was so auch nicht stimmt), dafür aber erhelle, wieso man „mit so ziemlich allen Büchern, die gegenwärtig über Ethik am Markt sind, nichts anfangen können” muß, sozusagen – und so vollmundig ist das dann gar nicht, jedenfalls die Bücher betreffend, die Hofbauer als moraline Handlanger von etwas recht Unappetitlichem desavouiert, nicht dagegen die Klassiker natürlich, die ja aber auch eher beispielsweise eine Kritik der praktischen Vernunft sind, als Versuche, das Moralische durch Regelungen, und seien sie auch irgendwie womöglich begründet, zu ersetzen.
Ethik hebt also als Sensorium fürs Falsche im Selbst-, doch in Wahrheit nur Unverständlichen an, wie alle Philosophie ja ein Staunen ist. Das Etablierte betreffend ist sie „intellektuelle Zerstörungsarbeit”, also Ethik als Moralphilosophie ein Auseinandernehmen des reflexhaft Moralischen, das doch nur das Pandämonium von Vorurteilen ist, teils: über sich selbst. Ethik beinhaltet Moral- und Ethikkritik. Denn zurecht vermißt Hofbauer in dem, was heute als Moral verkauft wird, die Frage: „Was soll ich für mich tun?” Vielleicht ist Moral nicht Egozentrik, aber eines Egos bedarf sie.
Sowieso bedarf sie aber der Zeit. Situativ mag sie wirken, indem zuvor geklärt wurde, was ethisch sei, doch Dilemmata wie das eingangs erwähnte sind nicht, was sie umtreibt – wo ja, in Ergänzung, sowieso nur eine Moral Anwendung finden kann, jene des Utilitarismus, die aber, wie Hofbauer en passant zeigt, keine ist. Und das Entscheiden drückt darin folglich nur fragwürdige Erfolgsmodelle aus, nicht aber die Frage, ob es zwischen Regulativ und Verstoß überhaupt Raum für Ethik gebe. Das eine müßte das andere affizieren, sei’s als Epikie, sei’s als Poesie, mit Michel Serres: „Wer […] über die Ordnung spricht, ist selbst innerhalb der Ordnung, oder aber seine Sprache ist nicht korrekt gebildet.”
Diese Frage beschäftigt Hofbauer mehrfach, framing, Erfolg und seine Parameter, die Ambivalenz der Entpersönlichung (Hofbauer kommt hier auf Adorno) darin. Es ist vielleicht die Frage des Buches, zuletzt: In Systemen kann man womöglich nur genügen, ein Genügend wäre also noch das Sehr gut im Schulsystem... Anpassung – Bück dich hoch (Deichkind)1 – würde demnach mit Erfolg verwechselt, Hofbauer zeigt schlüssig, daß, wer „»Leistung« ruft, in Wirklichkeit [...] »Anpassung« meint”... Noch dort, wo Leistung Leistung meinte, wäre man in den intrikaten Gefilden der „Oikodizee” (Joseph Vogl): Ethik als Kern der Ökonomie, die wiederum von der Politik um- oder verhüllt wäre. Moral und erst recht Ethik verschwänden, wo sie, und das erinnert an Artmanns poetischen act, auf Nachwirken und Resonanz oder gar mehr angewiesen wären. Ethik wäre, dieses Sich-Verfestigen zu dekonstruieren. Denn die Zuflucht in Standards ist attraktiv, wie Hofbauer zeigt, doch der „diplomierte[r] Alte-Menschen-über-die-Straße-Führer” ist deren Endstufe.
Was aber ist diese Mitte? Es mag sein, daß sie das ist, was sich nicht benennen läßt, die Verstörung im Regulativ wie in der Regellosigkeit, die beide weder sich noch einander wollen können – versteinert, erschöpft. So ließe Hofbauer den Leser aufs Kohärenteste ratlos zurück, nach klugen Dossier-Teilen, essayistischen Abschweifungen (Abschweifungen, nach welchem Maß?) und Begriffsklärungen, die am besten sind, wo sie das Unklare als Fundament des Begriffs beinhalten.
Man lese also Hofbauer; man lasse sich (endlich! wieder!) verstören..!
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