Blaues Bestiarium
Der Albtraum von Redakteuren einer Literaturzeitschrift ist der Traum des Zusenders eines Textes, eines Gedichts: die Auswahl. Wenn aber einer oder eine der Auserwählten nicht an die Decke spring vor Freude, gedruckt zu werden, nicht die Nachricht mit stolzpraller Brust postend in die Welt posaunt, sondern sich statt dessen tot stellt, auf keine Mail antwortet, auch die freundliche Einladung in die Redaktion auf einen Kaffee ausschlägt, ja – was dann? Dann können die Redakteure oder Herausgeber keine Kurzvita schreiben. Jenny 3 macht es trotzdem:
"Fransa Routhin: mysteriöse/r Einsender/in. Lebt und arbeitet wahrscheinlich."
Der Text der mysteriösen Einsenderin ist eine nicht leicht zugängliche Endzeitvision. Aber er ist „drin“. Es ist die dritte Ausgabe von „Jenny. Denken, Behaupten, Großtun.“, einer Literaturzeitschrift der Universität für angewandte Künste Wien. Studenten der Sprachkunst liefern Texte oder befragen prominente Kollegen. Ob an der Gestaltung ebenfalls Studenten beteiligt sind, ist nicht explizit ausgewiesen, aber doch zu vermuten. Die aufwändige Gestaltung mit Grafiken, kunstvoller Typografie, Fadenheftung mit offenem Rücken locken, sich näher auch mit den Texten zu befassen, lenken aber gleichzeitig ab. Blau, das ist Jennys Farbe, der Schriftsatz blau, die Anfangs- und Schlussseiten komplett blau, der Schriftsatz auf diesen Seiten weiß. Dazwischen gestreut einzelne Seiten mit einer XXL-Punktschrift mit einem Satz oder nur einem Wort, der sich hier wohl ins Gehirn brennen soll. Die Fadenheftung ermöglicht ein im Sinne des Wortes entspanntes Aufschlagen, und damit Genießen der Gestaltung und endlich auch des Inhalts. Diese liebevolle Gestaltung fand 2013 Anerkennung von Staats wegen: Jenny 1 wurde als eines der schönsten Bücher Österreichs ausgezeichnet.
Es sind also junge Stimmen zu lesen und auch zu hören. In „Presswurst“ von Stefan Reiser gibt es lediglich eine Webadresse zu einem Audio, unter dem man die gleichnamige „Reizwortoper“ hören kann. Ein Hör-Spiel mit bekannten Reizwörtern, ein Tremens aus Ficken und Titten und ähnlichen Sachen, könnte auch unter Dada 4.0 durchgehen. Aber man will natürlich auch lesen. Und freut sich über die Lust am Wortspiel, wie bei Johanna Müller: „Ich hintendrannte mich“, heißt ihr Text über einen Rückzug mit Hund. Eine prominente Wortspielerin interviewte die Redaktion: Monika Rinck. Sie beklagt sich darin, dass das Feuilleton sich mehr auf Porträts konzentriert und das Sprechen über Texte – über das Wie – keine Rolle mehr spielt. Tatsächlich kann man in diesem Interview sehen, dass Lyriker mehr zu erzählen haben, als welches Getränk sie zum Gesprächstermin bevorzugen. Es kommt auf die Fragen an! So wird Monika Rinck zum Beispiel zu den Fußnoten befragt, die ihren Kosmos umreißen. Und man liest, etwas erstaunt, sie mag keine Gegenwartsprosa! Die Satzgestaltung des Interviews zeigt deutlich und bildhaft, wie geschickt Fragen (fett gedruckt), Antworten (normal) und beigefügte Quellen (sehr klein, aber an den entsprechenden Stellen) zu einem übersichtlichen Satz komponiert werden können. Das verträgt man kein ganzes Buch lang, aber auf fünf Seiten geht diese Idee augen- und lesefreundlich auf. Ein weiteres Interview mit dem nicht mehr ganz jungen, aber immer noch provozierenden Hermes Phettberg (Jahrgang 1952) ist mit Mailfenstern „illustriert“. Der seit Jahrzehnten für den „Falter“ schreibende Sprachspieler bezeichnet sich als „unkonzentrablen Nervenbold“. In einem der Mailbilder bittet er die Redakteurin, ihm bei seiner Idee, der Gründung einer „Hochschule für Pornographie und Prostitution“ beizustehen. Danach kommt die Frage von ihr, was ihm besonders am Herzen liege ... Die Antwort kam zuerst, nach der Frage kam nichts. Diese Verdrehung ist dadawürdig. So wie sich hier Ianina Ilitcheva (eine der Herausgeberinnen) spielerisch auf den alternden Provokateur einlässt, und dies eine Entsprechung im Satzbild findet, so wird auch der spanische Text Wingston Gonzáles und dessen deutscher Übersetzung umgesetzt. Viel Platz zwischen den einzelnen „Schriften“, auch die eigenwillige Interpunktion des aus Guatemala stammenden jungen Dichters (Jahrgang 1986) wurde mit Geduld nachvollzogen. Möglicherweise sind diese in Jenny erschienenen Texte die ersten auf Deutsch. 2016 erschien bei „hochroth“ ein Band von ihm, 2016 ist aber auch das Erscheinungsjahr von Jenny 3.
Man könnte entgegenhalten: Hochschulbedingungen, Universitätsbedingungen, Glashaus, all das ermöglicht eine so opulente Gestaltung, so viel Zeit für Auswahl, Übersetzung, Interviews, ja, da ist so etwas möglich, so eine Orchidee, so ein blaues Bestiarium. Aber halten wir mal zurück: Gut, dass es so was gibt, woran die jungen Stimmen, die jungen Gestalter ihre Ansprüche an sich selbst schulen können. Aber dann haben sie den Duft gerochen und werden nicht so schnell die Segel streichen, wenn die Realität über sie kommt, nicht die Ohren hängen lassen, wenn die Gelder nicht so munter fließen, sondern für ihren Anspruch, ihre Idee – kämpfen.
Beteiligte Autoren der Ausgabe:
Manuel Beck, Jakob Defant, Raphaela Edelbauer, Leander Fischer, Wingston Gonzáles, Dominik Ivancic, Mathias Kropfitsch, Greta Theresa Lippauer, Margit Mössmer, Johanna Müller, Hermes Phettberg, Robert Prosser, Stefan Reiser, Fransa Routhin, Frank Ruf, Saskia Winkelmann, Michael Wolf, Tristan Marquardt, Monika Rinck, Ianina Ilitcheva.
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