Die Schwerkraft einer Musik aus Nichts
Wingston González, gerade dreißig Jahre alt, hat in Südamerika bereits fünf Gedichtbände veröffentlicht. Erst am 05. Juni hat er einige seiner Gedichte in Berlin vorgestellt. Drei Jahre zuvor war er Gast der Latinale. Für Hochroth hat Timo Berger sechs seiner Gedichte, einige davon finden sich auf lyrikline.de, ins Deutsche übersetzt.
Die Gedichte, die für „Hola Gravedad“ ausgewählt wurden, handeln von Musik und Mythos, und siedeln irgendwo zwischen Religion und Körper.
Das erste Gedicht in dem schmalen Bändchen heißt: „Das Leben ist ein Phonograph“. Allein der Titel erzählt Geschichten. Der Phonograph, die „Sprechmaschine“ wurde 1877 von Thomas Alva Edison erfunden und ein Jahr später patentiert. Dieses Gerät konnte Geräusche sowohl aufnehmen als auch wiedergeben. Wenn das Leben nun als Phonograph bezeichnet wird, heißt das zum einen, dass, egal wie sehr wir an Dinge wie „Fortschritt“ glauben mögen, unser Leben nach wie vor nur wiedergibt, was zuvor aufgezeichnet worden ist?
Im Gedicht selbst ist die Rede von Klängen, die uns ängstigen, statt uns aufzuheitern. Davon gibt es momentan mehr als uns Recht sein kann. Die Wiederholungen sind ein „großer und trauriger Phonograph“. Und man achte darauf, nicht vom Menschen ist die Rede, sondern vom Leben. Der Mensch, könnte man in diesem Bild vielleicht ergänzen, wäre dann die Nadel, die dafür sorgt, dass der Phonograph seine angstmachenden Wiederholungen immer wieder abspielt.
Stimmig ist, dass das nächste Gedicht sich auf ein Lied bezieht. Nach Angst und Einsamkeit, die beim „Phonographen“ im Mittelpunkt gestanden haben, ist es jetzt die Freude und das Spiel, die singen wollen, die sich in der Musik niederschlagen.
Der traurige Unterton allerdings bleibt, wenn es in der letzen Zeile heißt:
„[…]
und zu all dem die Musik,
[...]getaucht in ein Licht, das aus
den verflossenen Lieben aller
Männer strömte, Baby/aus allen Dingen
und weiter nichts“
Im halbfertigen Kammergedicht für Marylin taucht die musikalische Anspielung bereits im Titel auf, dazu der exklusive Rahmen, wozu vielleicht auch das Unfertige, unfertig wie das Leben von Marylin, passt.
„auf irgendeinem Friedhof der Namen/in irgendeiner verschlossenen Tür/
bist du
aber in keinem Abendrot/
in keiner Morgendämmerung
in keinem Körper“
Die ausgewählten Gedichte bewegen sich um die Themenkomplexe Körper und Klang. Wie im Titel T(h)ora(x) angedeutet, oszillieren sie dabei zwischen religiösen Bezügen und einer direkt erfahrenen Körperlichkeit.
„Der Sound seiner Jugend“, soll Wingston González einmal gesagt haben, „seien die Wanderprediger der Zeugen Jehovas gewesen“.1
Was hat es aber mit dem Titel „Hola Gravedad“ , Willkommen Schwerkraft, auf sich?
Natürlich könnte ich mir herleiten, was die Schwerkraft mit der Musik und dem Körper zu tun hat, die Schwerkraft, als etwas, das sich zusammen setzt aus der Schwermut und der Kraft, die sie ausübt, denn die Gedichte von Wingston González sind melancholisch. Allesamt. Aber vielleicht liege ich mit dieser relativ einfachen Herleitung genauso falsch, wie der Wolf, der auf der Illustration von Naufus Ramírez-Figueroa abgebildet ist. Dieser Wolf sieht viel erschrockener aus, als der Mann mit der Maske, der gleichmütig in die Landschaft schaut, obwohl doch eigentlich er sich fürchten sollte, wie es die Mutter schon Rotkäppchen beigebracht hat.
Was sowohl der Übersetzer als auch der Verleger dieses schmalen Bandes indes offenbar zu wenig gefürchtet haben, ist der Fehlerteufel. Es ist bedauerlich, dass sich auf diesen gerade einmal dreißig Seiten erheblich viele Fehler eingeschlichen haben.
Möglicherweise hat das damit zu tun, dass González Gedichte solche sind, die durch den Vortrag leben. Timo Berger berichtet, dass Wingston González nicht nur ein großer Menschenfreund, sondern auch ein begnadeter Rezitator mit einer großen Bühnenpräsenz ist. Er versetzt sein Publikum in Trance, schreibt Berger. Ansatzweise bekommt man eine Ahnung davon, wenn man die Gedichte liest. Da sind diese Wiederholungen, das Stakkatomäßige, die biblisch anmutenden Stellen. Wirklich erleben kann man die besondere Faszination dieser Gedichte ohne den Vortrag des Dichters nicht, so dass diese Auswahl von Wingston González Gedichten dem Leser am ehesten eine Möglichkeit gibt, in Ruhe zu Hause nachzulesen, womit er sich beim Zuhören hat in Trance versetzen lassen.
- 1. Timo Berger in seinem Porträt über Wingston González für das Goethe Institut: http://www.goethe.de/ins/mx/lp/prj/lit/aut/gua/de13534358.htm
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