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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ficken, wie Marx es gewollt hätte

Hamburg

Selbst im Internet gibt es Regeln und die bekannteste ist wohl die Nummer 34: »If it exists, there’s porn of it.« Das findet auch Karl heraus, nackt über den Macbook von Ava gekrümmt, während die sich draußen auf den Straßen Neuköllns Menschen mit geistigen Behinderungen für sexuelle Dienste anbietet. Wie das eben so ist in Berlin des Jahres 2011.

Aber von vorn in dieser recht kurzen und zugleich sehr langatmigen Geschichte, welche Ingo Niermann in Complete Love erzählt: Karl, Vater eines Sohnes und Lebensgefährte einer untreuen Frau, erhält am Nachmittag eines Berliner Sommertags eine Skype-Kontaktanfrage von einer Frau mit paradiesischem Namen: Ava Garden. Neugierig nimmt er sie an, die beiden beginnen ein Videogespräch.

In dessen Verlauf eröffnet ihm die ältere Frau zuerst, dass sie in drei Stunden sterben wird und vorher nochmal Sex haben will - mit ihm, der bei Skype als Karl83 gelistet ist. Bevor er sich aber in einer karamellfarbenen Limousine von einem Albino nach Neukölln fahren lässt, um sich von Ava im Zentrum einer kamerabestückten Modelleisenbahn den Arsch auslecken zu lassen, reden die Beiden aber erstmal eine ganze Weile.

Worüber? Liebe, Sex, gesellschaftliche Themen, ideologische Einfälle und generelle Ausfälle. Ava behauptet, auf Skype nach einem Karl83 gesucht zu haben, weil die Namensgebung in dieser Generation auf eine Mittelschichtsherkunft schließen lässt und bekommt genau das: einen verstockten, intellektuellen Bubi, der an Heinrich von Kleists Thesen zum Marionettentheater denkt, als sie ihn fragt, ob sie ihn als passiven Partner beim Analverkehr filmen darf.

Überhaupt hat jede noch so abstruse Figur, die in Complete Love zu Wort kommt, ziemlich viel kluge Dinge zu sagen und kontextualisiert das vorsichtig über wikipediahafte Einleitungen. Das ist zwar nützlich, es killt aber völlig jede Lesefreude. Denn Niermann beschreibt nicht, er referiert vielmehr - einerseits qua seinen Personen wie ein dialektisch geprägter Philosophiedozent und andererseits wie ein Kulturwissenschaftler, dessen Hausaufgaben mal nicht der Hund gefressen hat.

Die Gesteltztheit der Dialoge, die von nur wenigen knappen Beschreibungen umrahmt sind, macht eines der zwei großen stilistischen Probleme von Complete Love aus. Sie macht den Roman zu einem Sammelbecken von bildungsbürgerlichen Positionen, obwohl das Programm eigentlich ein ganz anderes sein soll: ein quasi-marxistischer Aufruf zu einer neuen, kommunalen und eben komplettistischen Sexualität, welche die Alten wie auch, allen voran, Menschen mit Behinderungen einschließen soll.

Das zweite Problem ist die Tatsache, dass der gebürtige Bielefelder Niermann den Roman in Englisch schreibt. Nicht, dass er die Sprache nicht beherrschen würde, aber so richtig rund liest es sich nie. Spätestens, wenn er davon berichtet, wie Karl immer wieder zwischen Siezen und Duzen changiert, wird es dann unnötig bescheuert. Alle Figuren reden Deutsch mit allen seinen Eigenarten und spezifischem Vokabular - zum Teil dann doch in der Originalsprache wiedergegeben - miteinander, wiedergegeben wird es aber auf Englisch. Was soll das eigentlich? An der Verlagsheimat des Autors, welcher beim zum Großteil englischsprachigen Sternberg Press die Solution-Reihe herausgibt, in welcher auch Complete Love erscheint, kann es nur teilweise liegen.

Vielleicht traf Niermann die Entscheidung aus demselben Gedanken heraus, aus dem Karl nackt an Ava Gardens Macbook nach disability-Pornos sucht, welche er natürlich auch findet. Die Regel 34 bleibt eben unumstößlich. Sie führt ihn zum Love Garden, einer künstlichen Siedlung, welche von Mitgliedern aus dem ehemaligen Bar25-Umfeld begründet wurde. Dem Club, in dem Ketamin geschnupft, Moët geschwenkt und der Weltfrieden herbeigelaberflasht wurde. Der Love Garden setzt auf ein sexualrevolutionäres Programm, das weit über einfach Inklusion hinausgeht: Hier sollen ihre Lust befriedigt bekommen. Ficken, wie Karls Namensvetter Marx es gewollt hätte - vielleicht. Das meint der Titel und deshalb vielleicht Niermanns Entscheidung, den Roman auf Englisch, der lingua franca des globalen Kapitalismus, zu schreiben. Complete Love soll für alle da sein, genauso wie die kompletistische Liebe in der Zeltsiedlung.

Aber das Personal bleibt bildungsbürgerlich. Ava, die im Übrigen natürlich nicht sterben wird, suchte doch genau deshalb nach dem Skype-Nutzernamen Karl83, erklärt sie im anfangs: Der verriete die soziale Herkunft seines Trägers. Und so reden und denken eben auch alle, von Karl angefangen bis hin zu dem unter Muskelatrophie leidendem ehemaligen Kommunenmitglied Oskar Patzer und der körperlich behinderten Elsa, die Karl gegen Ende des Romans sanft von der Marx-Engels-Statue nahe des Roten Rathauses hievt, um sie im Gras zu bumsen. Karl kommt auf ihr, und die Revolution, die kommt ebenfalls von oben.

Die sozialen Differenzen, welche Love Complete zu überbrücken sucht, finden sich letztlich woanders: zwischen ability und disability, einerseits körperlicher und andererseits geistiger Natur. Diese Differenzen werden aber vom Roman ebenso wenig aufgebrochen wie die Genderzuschreibungen, welche sich in den zum Teil tölpelsexistischen Dialogen von Karl - selbsterklärter Feminist, na klar - und Ava niederschlagen. Complete Love fußt immer noch auf binären Zuschreibungen oder besser: leugnet sie nicht.

Denn tatsächlich greift der Roman ein Thema auf, das immer noch tabuisiert wird und gegen das keine organisierte Lobby angeht: Der »negative sexism«, von dem eine Rednerin im Love Garden spricht, existiert: Systematisch wird Menschen mit Behinderungen, vor allem geistigen, die Sexualität abgesprochen. Die daraus resultierenden Praktiken gehen in Heimen so weit, dass dem Klientel medikamentös die Libido unterdrückt wird. Ein Eingriff nicht nur in die reine Körperlichkeit, sondern auch in die menschliche Selbstbestimmung. Was von der Norm abweicht, erhält nicht dieselben Rechte. Und das nicht nur im Jahr 2011, sondern immer noch.

Complete Love möchte einen Lösungsvorschlag anbringen, der aber kommt in der falschen Form. Denn Ava und Karl, der sich innerhalb weniger Stunden ideologisch völlig vereinnahmen lässt, fetischisieren höchstens ihre eigene Rolle als HelferInnen derjenigen, die straks als Bedürftige deklariert werden. Mehr noch richtet sich der Roman an ein ebensolches Publikum: bildungsbürgerlich und geistig topfit. Das ist vielleicht die grundlegende Aporie aller Aufklärungsliteratur, die internen Widersprüche des Romans allerdings bleiben bestehen. Das Kernproblem liegt im Genre: Complete Love, welcher auf die Essaysammlung Love aus Niermanns Solution-Serie bei Sternberg folgt, hätte als Essay weitaus besser funktioniert. Dann auch auf Englisch.

Ingo Niermann
COMPLETE LOVE
Sternberg Press
2016 · 252 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-95679-192-5

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