Sein und Zeit, konkret
Kigo – das ist das auf dem Cover des neuen Buchs von Ingram Hartinger auch zu sehende Schriftzeichen des Japanischen für die Jahreszeiten; wobei das zu einfach gesagt wäre: Eigentlich ist damit nämlich das Jahreszeitenwort gemeint, bezeichnet werden so also Wörter oder Phrasen, die (in Japan) allgemein mit einer bestimmten Jahreszeit in Verbindung gebracht werden, Kirschblüte und dergleichen, worin die Zeit-Wörter als nicht abstrakt erscheinen, sondern tatsächlich an ihre Zeit gebunden, die auch ihrerseits in keinem abstrakten Begriffsystem mehr aufgeht. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter werden je für Kigo in eine frühe, mittlere und späte Periode unterteilt, deren jede dann in subtilen Wendungen oder schon eher Andeutungen lebt.
Das ist dann auch der Plot dieses Buchs, das wie leicht zu ersehen somit einen Plot nicht hat noch braucht; stattdessen ist die Zeit der Kern, das Wachsen, ein urwüchsiges Narrativ sozusagen, das über die und mit der Natur spricht. Kreatürlichkeit, also geworden, vielleicht sogar: gemacht worden zu sein, das ist also, was sich hier schreibt. Physis wird Text. Was aber wurde, das vergeht auch, womit die Offenheit des Buches, worin der „Tod selbst, alles beobachtend, […] vor Lachen (stirbt)”, doch auch eine melancholische Seite hat: „Einem Nichts zu öffnet sich der Himmel.” Das Melancholische, das so benannt schon zu sehr Topos wäre, während Hartinger doch präzise bis in den Wortrythmus Unverwechselbares schreibt, ist dominanter in den kompakten Schilderungen der Kälte, die hier Jahreszeit, evozierter Aggregatzustand und Gestimmtheit wird, aber überall zugegen – und eben doch auch nicht, wie auch die Offenheit nie billig erscheint.
Das führt zu einer Art Erregung, einer Nüchternheit der Hingabe, wo man sonst „besoffen von Dauer” blind wäre. Erst hier ahnt man: „Nichts ist je genug gewesen”; aber auch, daß dieser Satz gefährdet, was er transzendieren will, eine stete Gratwanderung der Intensitäten. Denn eben jener tote Tod ist damit antizipiert, eine ars moriendi, die aber womöglich doch trügt, ums Leben sogar betrügt: „Man gehe mit dem Denken voran und sterbe, bevor man stirbt”, so Hartingers ambivalenter Satz, der durch seine späte Ergänzung kaum weniger zweischneidig ist: „Die Tode vor dem letzten, umsichtigen Tod sind keine.”
Umsicht hat nur, was gelebt ist, das ist der Grund, warum hier Sein und Zeit konkret werden, nicht bloß Kategorien sind, sondern vielleicht diese, aber dann eben auch, was diese füllt und sprengt… Gerade metaphysisch entsteht hier keine Metaphysik, was heute fast deckungsgleich entweder mit ihrer Anklage wäre, oder eben eine „abgewirtschaftete Metaphysik”. Beides ist Hartingers Buch nicht, sondern vitale Metaphysik, also – allenfalls – der Kritik näher…
So wird von Seite zu Seite ein Schreiben immer deutlicher, das nicht souverän ist, doch dies im besten Sinne: ein aktives Sensorium, eine tätige Passivität, wenn die Katachrese gestattet ist. Statt der „Ungeborenheit” scheinbar reinen Abwartens („Klein sind geworden die Herzen der Menschen, / zu klein für ihr Blut”, wie es mit Takis Antoniou bei Hartinger heißt) oder aber reiner Umtriebigkeit ist es ein Drittes, das beide scheinbaren Pole steigert und sich beiden – geradezu untreu, doch gerade darin akkurat – anheimgibt. Das Ergebnis ist nicht Zerrissenheit und auch nicht Beliebigkeit, sondern höchste Spannung; man darf sie freilich nicht mit jener verwechseln, die eingängige Handlungen offerieren. Ein Buch kurzum, das im Kleinsten sich und darin das Größte findet, ein Text, das nicht sagt, man müsse sein Leben ändern, sondern im Lesen dies schon einsetzen läßt, nämlich mit wahrem Schreiben zu wahrem Lesen zwingt, nach Ovid: nulli sua forma manet…
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