Workaholics an die Weltmacht
Gift bildet die makabre Klammer um den Fall Göring/Kelley. Zumindest in der Version, die der Journalist Jack El-Hai in seinem Buch „Der Nazi und der Psychiater“ aufrollt. Am Neujahrsmorgen 1958 schluckt der Psychiater Douglas Kelley vor den Augen seiner Familie eine Zyankalikapsel. Zwölf Jahre zuvor beging Kelleys berühmtestes Untersuchungsobjekt, Hermann Göring, in seiner Nürnberger Zelle Selbstmord – ebenfalls mit Zyankali. Eine faszinierende Überlappung der Schicksale, die förmlich nach einer Literarisierung schreit.
Der reißerische Buchtitel lässt schlimmste Schwarz-Weiß-Malerei befürchten. Doch El-Hai widersteht – zumindest weitgehend – der Versuchung, die Zusammenhänge zwischen den beiden überlebensgroßen Männerfiguren allzu sehr zu vereinfachen. Zumindest eines steht nach wenigen Seiten fest: El-Hai hat exzellent recherchiert. Nur selten tappt er in die Falle, das Vorgefundene hollywoodtauglich zuzuspitzen. Was allerdings auch gar nicht nötig gewesen wäre – geben die nackten Fakten doch schon genug Skurriles bis Morbides her.
Zunächst begegnen wir dem ehemaligen Reichsmarschall Göring, der kurz nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands im VIP-Gefängnis Bad Mondorf einzieht. Görings Gepäck enthält edelsteinverzierte Orden, Brillant- und Rubinringe sowie „beinahe die Gesamtmenge des weltweit existierenden Paracodins“. Douglas Kelley, vom US-Militär beauftragt, die psychische Gesundheit der NS-Gefangenen zu überwachen, wird ihn bald von seiner Tablettensucht befreien. Monatelang verbringt der Psychiater tagtäglich viele Stunden mit Göring, Rudolf Heß, Alfred Rosenberg und den anderen inhaftierten NS-Funktionären, spricht mit ihnen, hört sich ihre Klagen an und lässt sie Tintenkleckse interpretieren – einer der umstrittensten Rorschachtests der Geschichte. Schließlich begleitet er die Verlegung der 22 Angeklagten nach Nürnberg in den berüchtigten „Kriegsverbrechertrakt“, wo er ihre Prozessfähigkeit bescheinigen soll.
Über Kelley erfahren wir in Rückblenden, dass er nicht nur ein hochspezialisierter Mediziner, sondern auch ein geltungsbedürftiger Hobby-Zauberkünstler ist, der seine Umwelt gern mit Taschenspieler-Tricks in Atem hält. „Größenwahn war in Kelleys Familie erblich“, behauptet El-Hai, womit die zentrale Parallele zwischen Kelley und Göring gezogen wäre. Tatsächlich verbringt Kelley mehr Zeit in Görings Zelle als mit den anderen Gefangenen. Wie weit die Identifikation des Psychiaters mit seinem bekanntesten Fall wirklich geht, bleibt natürlich der Spekulation des Autors überlassen. Zumindest reicht das Vertrauen zwischen den beiden Männern so weit, dass Göring dem Arzt seine kleine Tochter anvertraut, sollten beide Eltern den Tod finden – eine Bitte, die Kelley allein schon aus berufsethischen Gründen ausschlägt.
Das übergeordnete Ziel des Psychiaters ist die Suche nach der „NS-Psyche“, letztendlich nach „dem Bösen schlechthin“. Jedoch gelangt er zu einem Schluss, der ihn selbst überrascht:„Sie waren wie jeder andere aggressive, gerissene, ehrgeizige und rücksichtslose Geschäftsmann – nur dass ihr Geschäft der Aufbau einer Weltmacht war“. Eine unangenehme, ja schockierende Einsicht, die der damaligen Weltöffentlichkeit nicht recht schmecken will. Vor allem die Siegermächte bevorzugen zu dieser Zeit die wesentlich befriedigendere Erklärung, bei den NS-Funktionären habe es sich um maschinenähnliche Psychopathen gehandelt.
El-Hai befürwortet Kelley Theorie, geht jedoch noch einen Schritt weiter: Egozentrik, Geltungsbedürfnis, Arbeitswut, Ehrgeiz, Manipulationsgeschick – all die Eigenschaften, die der Psychiater den NS-Führungskräften attestiert, finden sich auch in dessen eigener Persönlichkeit. Nur dass Kelley sich dieser Charakterzüge gar nicht bewusst zu sein scheint und deshalb auch nichts unternimmt, um deren negative Ausprägungen im Zaum zu halten. Im Gegenteil. Zurück in den USA stürzt er sich mit Eifer in die Vorbereitungen zu seinem Buch „22 Cells in Nuremberg“, beteiligt sich an der Aufklärung vieler berühmter Kriminalfälle, wirkt an Fernsehproduktionen mit, ertränkt den Stress in Alkohol – und wird langsam aber sicher zur Karikatur eines nie zufriedenen Erfolgsfanatikers.
Was das Privat- und Arbeitsleben Kelleys angeht, stützt sich El-Hai insbesondere auf die Aussagen des ältesten Sohnes Doug, der seinen Vater als „eine Kreuzung aus einem Wissensschwamm und einem wildgewordenen Bullen“ beschreibt. Eine explosive Mischung, die bereits das tragische Finale vorausahnen lässt. Bezeichnend ist Kelleys Reaktion auf Görings Suizid, der für Kelley nicht Feigheit, sondern „Genialität“ demonstriert – und einen letzten Beweis für ein theatralisches Talent liefert, das die beiden Männer auf fatale Weise teilen.
Ein bisschen zu ausführlich ergeht sich El-Hai in den Schilderungen des Nürnberger Tribunals, die der existierenden Literatur nichts Wesentlich Neues hinzufügen können. Fast hat man das Gefühl, El-Hai nimmt es seiner Hauptfigur Kelley übel, den Schauplatz kurz vor dem Höhepunkt verlassen zu haben, sodass er sich eine ganze Weile lang sträubt, zu dessen weiterem Lebensweg zurückzukehren. Anekdoten, deren Zusammenhang mit der Handlung sich nicht recht erschließen, werden zu lange ausgewalzt; diverse Wiederholungen des Offensichtlichen ermüden.
Was „Der Nazi und der Psychiater“ jedoch hervorragend leistet, ist, einen Einblick in die komplexen Wirkungsweisen traumatischer Erfahrungen zu gewähren. Traumaforschung war das Spezialgebiet des Psychiaters; letztendlich wurden ihm und seiner Familie die eigenen nie aufgearbeiteten Erlebnisse zum Verhängnis. Ohne der Lust am Spektakel zu erliegen, fördert El-Hai die existenziell erschütternden Momente seiner Figuren zu Tage, deren Auswirkungen sich über Kontinente und Generationen hinweg erstrecken.
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