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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Das Wieweiter und Dasdanach

Ein Buch zur Stunde?
Hamburg

Manchmal weiß man nicht, ob es nicht besser ist, das Radio auszumachen, wenn schon wieder von Flüchtlingen die Rede ist, die Zeitung weglegen, Facebook ignorieren, einfach, um selbst mal zu überlegen, welche Haltung nehme ich ein. Zwischen Merkel und Pegida muss doch noch etwas möglich sein. Ob der Roman von Jan Böttcher mit dem schlichten Titel Y eine Möglichkeit der Reflexion ist und zur eigenen Meinungsbildung beiträgt muss jeder selbst entscheiden. Aktuell scheint er allemal. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Familie bereits Mitte der 1980er aus dem Kosovo nach Deutschland kam. Es geht um das Wieweiter und Dasdanach. Und um Heimatlosigkeit in der nächsten Generation. In Y ist das Leka, ein 14-Jähriger, in Hamburg gezeugt, in Prishtina geboren, der sich auf abenteuerliche Weise auf den Weg nach Berlin macht, wo sein deutscher Vater lebt. Der Kontakt bestand über all die Jahre, doch die Beziehung seines Vaters Jacob zu seiner albanischen Mutter Arjeta zerbrach noch vor seiner Geburt.

Der Roman beginnt mit einem Ich-Erzähler, dessen 14-jähriger pubertierender Sohn vom Vater verlangt diesen unbekannten stummen Jungen Leka zu beherbergen. Nach und nach steigt also der Ich-Erzähler in die Geschichte. Als erstes sucht er den Vater des Jungen und findet Jacob und dessen Vorgeschichte, die er sich erzählen lässt: Jacob ist seiner Jugendliebe Arjeta nach 13 Jahren in Hamburg wiederbegegnet. Während er sich zu seiner Schulzeit nicht für den Migrationshintergrund seiner Angebeteten interessierte, ist es nun Arjeta, die von ihrer Familie erzählen muss und vom Wunsch des Vaters nach Prishtina  zurück zu kehren. Jacob ist häufig Gast bei der kosovoalbanischen Familie. Und die Familie wartet auf den  – nach so viel Interesse an Tochter und Schwester – längst fälligen Heiratsantrag, immerhin ist Arjeta schon 26 Jahre alt. Jacob denkt nicht daran, die Eltern um die Hand der Tochter zu bitten. Dennoch geht die Beziehung weiter, bis die Familie nach Prishtina zurückzieht. Die schwangere Arjeta mit, die sich dort verheiratet.

Jakob ist Computerfreak, er entwickelt Spiele und als er seiner Freundin nach Prishtina folgt, kämpft er auch halbherzig um seinen Sohn. Aber die Computerspiele fesseln ihn mehr, allmählich fließen Elemente des Krieges ein. Zunehmend bewegen sich die Erwachsenen, die Eltern von Leka, von der Realität weg. Jacob wird ein erfolgreicher Unternehmer in der Computerspielbranche später in London und Berlin, die Mutter Aktionskünstlerin im Kosovo. Beide spielen mit der Realität des Landes, das sich als Spielball zwischen Mächten nicht definieren kann. Wer nicht spielt, ist der Sohn.

Gegen Ende des Buches wird ein Witz erzählt, der das Chaos des Landes metaphorisch beschreibt: Gott schenkt einem Wanderhirten einen Staat. Der Wanderhirt zu Gott: „Du hast dich verhört! Einen Stab wollte ich, um damit zu gehen. Keinen Staat, vor dem ich weglaufen muss!“ Das Bild ist recht schlicht, doch sehr treffend auch für andere Staaten, deren Völker weglaufen.

Das für den Einzelnen fassbar zu machen, hat Böttcher die Verweigerungshaltung der Erwachsenen gewählt, denn wenn auch die Aktionskunst Arjetas politisch gemeint ist, es ist nur ein Spiel, die Realität existiert nicht mehr für sie. Ihr Kind und ihr Ehemann, der sich schließlich seiner Depressionen nicht mehr erwehren kann und den Freitod wählt. Das wirft sie nicht aus der Bahn. Dieser Versuchsanordnung kann ich folgen. Nicht aber dem Ich-Erzähler in seiner unentschlossenen unentschiedenen Position. Er betont, er sei nicht mit Jacob befreundet. Und dass er sich alles nur habe erzählen lassen, von ihm und von ihr. Der Verdacht, der Ich-Erzähler ist ein Alter Ego des Autors, der seinen Figuren hinterher stalkt, lässt sich nicht beiseite schieben. Ist eigentlich auch legitim, wenn sich die Beziehung irgendwann, meinetwegen im letzten Satz erschließt. Das tut es aber in Y nicht. Das letzte Drittel des Buches ist der Erzähler mit seinem Sohn in Prishtina, Leka besuchen. Und es entwickelt sich eine amorphe Beziehung zwischen Erzähler und Arjeta. Er ist aber weder an ihrer Person noch an der Kunst interessiert. Es scheint, als wolle Böttcher lediglich transportieren, wie die Aktionskunst Arjetas aussieht. Seitenweise werden Filme beschrieben, am Schluss gibt sie ihm noch einmal DVDs, man fragt sich wozu, denn der Erzähler bezieht keine Stellung zu der Aktionskunst: Arjetas Partner hat seinen Freitod inszeniert und blieb ein Jahr verschwunden. Nun wohnen beide in einem Park und protestieren damit gegen dessen illegale Abholzung. Sie bauen in traditioneller Bauweise eine Hütte, in der sie leben und sich dabei selbst filmen. Die Architektur der Hütte ist ein liegendes Y, in den schmalen Teil wurden früher die Ziegen und Schafe hineingetrieben, aus dem offenen wieder hinaus. Dem Y begegnen der Ich-Erzähler und sein Sohn auf dem Flughafen wieder, wo eine solche Körperhaltung des Bodenpersonals (nach oben geöffnete Arme) als Signal für Piloten dient. Das Y soll wohl die alte und die neue Zeit symbolisieren. Mich überzeugt das nicht, es scheint sehr bemüht.

Dass Y als Buch zur Stunde wahrgenommen wird zeigt, dass es im Februar auf Platz 8 der SWR-Bestenliste steht. Ja, das Thema stimmt. Nein, die Ausführung überzeugt mich nicht.

Jan Böttcher
Y
Aufbau Verlag
2016 · 225 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-351-03640-9

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