Schweigen als Möglichkeit
Es passiert mir nicht oft, dass ich einen Roman mit mehr als sechshundert Seiten ungern weglege und seinen Kosmos nicht verlassen will. Bei dem neuen Buch des spanischen Erzählers war es so und hat mich an die fast zwanzig Jahre zurückliegende Lektüre seines Romans Mein Herz so weiß erinnert, mit dem er in Deutschland berühmt geworden ist. Wie damals zogen mich bereits die ersten Sätze an und weckten meine Neugier auf den weiteren Fortgang der Handlung. Vielleicht trug dazu auch bei, dass es einige Ähnlichkeiten des jeweiligen Anfangs gibt. Dass beide Erzähler Juan heißen und beide Titel ein Shakespeare-Zitat sind, mag dabei eher nebensächlich sein, inhaltlich geht es aber in beiden Roman um ein zurückliegendes, nicht aufgeklärtes Geheimnis in einer Ehe, das erst nur angedeutet wird, bis es sich dem jeweiligen Erzähler, ob er will oder nicht, offenbart. Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren…, so beginnt Mein Herz so weiß und in So fängt das Schlimme an erfährt der Leser in den ersten Sätzen:
Nicht allzu lang ist die Geschichte her –weniger lang als ein Leben gewöhnlich dauert, und wie gering ist ein Leben, wenn es vorüber ist, sich in ein paar Sätzen erzählen lässt und im Gedächtnis nur noch Asche bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Wind -, und doch wäre sie heute unmöglich. Damit meine ich das, was den beiden Eduardo Muriel und seiner Frau Beatriz Noguera, als jungen Menschen geschehen war, und nicht so sehr, was mir mit ihnen geschah, als ich der junge Mann war und ihre Ehe ein langes unauflösliches Unglück.
Bereits hier ist der Ton angeschlagen, der sich durch den ganzen Roman zieht, Ereignisse andeutet, die neugierig machen und die der Erzähler immer wieder reflektiert, teilweise ganze Kapitel umfassend. Aber, bei allen Abschweifungen und Nebenhandlungen gelingt es dem Autor, den Leser genug zu fesseln, um auf Fortgang und Ursache des Rosenkrieges zwischen Eduardo und Beatriz gespannt zu sein.
Dabei ist die eigentliche Geschichte, wie es eingangs heißt, in wenigen Sätzen erzählt. Eduardo ist ein berühmter Filmregisseur, der allerdings mit fünfzig Jahren den Höhepunkt seiner Karriere hinter sich zu haben scheint. Jedenfalls muss er einen guten Teil seiner Arbeit darauf verwenden, Sponsoren zu finden und Produzenten von sich überzeugen. Juan, der gleich nach dem Studium für ihn als Sekretär und Übersetzer arbeitet, bewundert ihn grenzenlos und begibt sich völlig in seine Welt, so dass der Roman gespickt ist mit Beschreibungen und Vergleichen aus der Filmwelt. Eduardo sei, meint Juan
beim Bild der Galane seiner Kindheit oder Jugendzeit hängengeblieben, in den dreißiger, vierziger Jahren, nicht nur bei Errol Flynns (dem Urbild, mit dem er das strahlende Lächeln gemein hatte)
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als Juan zu der Familie in die Madrider Wohnung zieht. Er findet Beatriz angenehm, zurückhaltend und sehr attraktiv. Deshalb kann er nicht verstehen, dass Eduardo sie auffallend schlecht behandelt und mit den übelsten, verletzendsten Schimpfwörtern belegt. Schon längst hat er bemerkt, dass die Eheleute kein gemeinsames Schlafzimmer und auch keinen Sex haben, Beatriz also, um wieder mit Shakespeare zu sprechen, ein betrübtes Bett hat. Eines nachts beobachtet er, wie die spärlich bekleidete Beatriz an Eduardos Schlafzimmer klopft und ihn geradezu anfleht, sie zu umarmen und ihr die „alte dumme Geschichte“ zu verzeihen. Der Dialog zwischen den beiden, der sich dann über mehrere Seiten hin entspannt, offenbart, dass vor längerer Zeit etwas geschehen sein muss, das Eduardo völlig aus der Bahn geworfen und weshalb er seit dieser Zeit (immerhin nach drei, eigentlich vier Kindern, eines ist gestorben) Beatriz nicht mehr angerührt hat.
»Ein Grund mehr, dass ich überzeugt bin, mein Leben weggeworfen zu haben. Eine Dimension meines Lebens. Deshalb kann ich dir nicht verzeihen.« … Als gäbe er ihr erst jetzt Erklärungen, reumütige dazu, zum allerersten Mal. »Wenn du mir nur nichts erzählt hättest«, fügte er hinzu, »wenn du die Täuschung aufrechterhalten hättest. Wenn man täuscht, muss man bis zum bitteren Ende gehen. Was hat es für einen Sinn, den anderen eines Tages aus seinem Irrtum zu reißen, plötzlich die Wahrheit zu erzählen. Das ist noch schlimmer, denn alles Gewesene wird widerlegt oder für nichtig erklärt, man muss sich das Erlebte neu erzählen oder von sich weisen…«
Manchmal, so lautet die These des Romans, ist die Wahrheit grausamer als eine Lebenslüge. So fängt das Schlimme an, und das Schlimmere bleibt zurück. Der Titel des Romans muss also um einen weiteren Halbsatz ergänzt werden. »Es gibt immer schlimme Dinge« sagt er in einem Interview, »doch die Frage muss lauten: Wie können wir das Schlimmere vermeiden.« Dieser Gedanke ist der rote Faden, der Zusammenhalt des Romans und er bezieht auch die Frage, wie man mit der Vergangenheit umgeht mit ein.
… den Vorteil oder die Zweckmäßigkeit, den vergleichsweise geringeren Schaden, wenn man darauf verzichtet, zu wissen, was man nicht wissen kann, wenn man sich den Wechselfällen dessen entzieht, was uns im Laufe unseres gesamten Lebens erzählt wird, und das ist so viel mehr als das, was wir selbst erleben und bezeugen, und selbst das kommt uns bisweilen wie erzählt vor, je mehr es sich im Lauf der Zeit von uns entfernt und Patina anlegt…Erst nachdem wir genickt und mit den Schultern gezuckt haben, bleibt das Schlimmere wirklich hinter uns, denn dann ist es zumindest Vergangenheit. Und so fängt das Schlimme an, nämlich das, was noch nicht eigetroffen ist.
Der Anfang des Romans spielt im Jahr 1980, also fünf Jahre nach Francos Tod, in der Zeit der sogenannten transición, dem immer wieder gefährdeten Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Ein ganzes Kapitel widmet Marías (und da spricht wohl eher der Autor als der Erzähler) diesem Übergang und der Auseinandersetzung Spaniens mit seiner Vergangenheit, bzw. dem Fehlen dieser Auseinandersetzung. Die Problematik wie man mit ehemaligen Franco-Anhängern umgeht, die sich nach dem Sturz des Regimes als dessen Gegner gebärden, wird im Roman an der Figur des widerwärtigen Doktors van Vechten dargestellt. Auch im historischen Kontext wendet Javier Marías das Shakespeare-Zitat an. So sagt er in dem bereits erwähnten Interview:
Viele aus der jüngeren Generation kritisieren heute die transición und halten sie für die Ursache aller aktuellen Übel. Natürlich war die transición nicht perfekt, und natürlich war die Amnestie auch ein Problem. Aber man muss verstehen, wie es dazu kam. Franco starb im Bett, niemand hatte ihn gestürzt. Die Armee war noch immer franquistisch, und nur sie hatte Waffen. Der friedliche Übergang zur Demokratie verlangte unendlich viele Konzessionen, vor allem aufseiten der Verlierer im Bürgerkrieg. Ich würde trotzdem sagen: Es war der beste Weg. Es wurden nur wenige Menschen getötet. Die Leute konnten in einem Land, in dem es 40 Jahre lang keine Wahlen gegeben hatte, wieder wählen gehen. Davon handelt auch mein Roman: von solchen notwendigen Konzessionen, von der Möglichkeit, das Schlimme zu akzeptieren, um das Schlimmste hinter sich zu lassen.
Der Roman hat viele Aspekte. Er bewegt sich, auch sprachlich, auf verschlungenen Wegen, was sicherlich für die Übersetzerin Susanne Lange eine Herausforderung war. Man muss sich darauf einlassen und wird dadurch belohnt, dass sich am Ende diese ganzen vielen Fäden kunstvoll zusammenfügen. Einer dieser Fäden soll noch erwähnt werden. Auch Juan trägt ein Geheimnis mit sich herum. Während seiner Zeit als Mitbewohner der Familie in Madrid, schläft er mit Beatriz, was ungeahnte Folgen hat. Nie hat er irgendjemanden davon erzählt, und so lauten auch die letzten Worte des sehr lesenswerten Romans: Und nein, keine Worte.
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