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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Dasein und Dessin

Wer denkt, der sieht nicht einfach, was ist, der sieht vom Sehen viel eher ab, um das Sehen neu zu konfigurieren, zu rekalibrieren, der zeichnet sozusagen, was sein könnte. Denken hat also mit Skizzen zu tun, die mögliches Sehen vorwegnehmen und zugleich hintanstellen. Es geht so ums mögliche Ereignis, worin man, wenn zuvor das Eigene bedacht hat, also zeichnete, etwas erkennen kann, das nicht stereotyp, nicht unser Eigenes ist. So ist das Ereignis, das etymologisch mit dem Eigenen nichts zu tun hat, auf es angewiesen, um etymologisch korrekt ein Eräugnis zu sein.

Diesen Umweg, dieses „Umreißen” braucht es, um zu verstehen: „Die Zeichnung ist also die Idee”[1]… Jedenfalls dann ist sie es, wenn die Idee in irgendeinem Kontakt mit dem objektiven Idealismus gedacht wird. Die Aberration, die auch verschleiert – man lese von der Technik, Licht umleitend ein temporales cloaking zu generieren[2] –, ist also das, was bestenfalls diaphan doch Epiphanien zeitigt. So, wie das Ereignis gleichsam nicht stattgefunden hat, das durch eine Manipulation des Lichts in einem Zeitspalt verborgen bleibt (statt „spatial cloaking”: „to cloak an event in the time domain from an observer by manipulating the dispersion of a material such that a temporal gap is created in the probe beam”[3]), findet es also eigentlich erst statt, wenn man im Wissen hierum, das auch ein sprachliches sein wird, formuliert, inwiefern es von den – unter anderem technischen – Bedingungen als Eräugnis abhängt, um zu ahnen, inwiefern es nicht nur das Resultat dessen ist, was conditio sine qua non, aber keineswegs das so Bedingte ist.

Die Zeichnung bricht also etwas auf, „ist die Öffnung der Form”[4], wo diese dem (stets behaupteten, aber darum nicht zu bagatellisierenden) Gehalt zuwiderläuft, wo man also „des Widerstands einer Form gegen ihre Deformierung”[5], die aber stets schon geschehen ist, gedenken müßte. Zeichnend merkt man diesen Widerstand, wenn sich die Zeichnung wehrt, nicht eines technischen Unvermögens wegen, sondern in ihrem Eigenleben, das es auch nicht gestattet, einen Strich, der einmal gezogen ist, zu revidieren. Kaschierende Praktiken, die die Malerei vielleicht gestattet, läßt das wilde Graphit- oder Kohletier nicht zu. Darin erkennt man „die Urgeste eines Zeigens”[6], die auf etwas weist, das nicht im souveränen Akt gelegen ist: „Figuren, Rhythmen, Ringe und Furchen”[7] verraten dem und den Zeichner… Das meint (unter anderem): „Selbstaffizierung”, bis zum „Subjektwerden”[8].

Zeichnung ist also etwas, das Praxis eines Selbst ist, das zugleich diese Tätigkeit sich nicht integrieren kann, was man Transzendenz nennen könnte. Darin ist dann „eine Antwort oder ein Verweis des Seins auf das Sein selbst”[9], man könnte auch sagen: ein „Selbandere(s)”[10]… Also ist in der Zeichnung „eine »Unbefriedigung«, die sich selbst immer weiter mitreißt.”[11] Es ist die indirekt lustvolle Arbeit mit etwas, das „keine Form anerkennt, sich aber ereignet”[12], das, was im Ausdruck diesen suspendiert, weil das Eräugnis mehr zeigte, als die Zeichnung, soweit sie die eigene ist. Bataille wird hier nicht zufällig zitiert, auch bei ihm ist die Zeichnung dies, was sich nicht vollenden läßt, wiewohl der Mensch das graphein verfeinert („perfektioniert das Spalten unnötigerweise”[13]). In Blanchots Bataille-Lektüren begegnet man dem ebenso: Das „Werk – weder abgeschlossen noch unabgeschlossen”[14] – ist immer auch außer sich, ekstatisch, „in diesem Moment Religion, das heißt sich selbst fremd”: Jedoch ist es „diese Fremdheit […], was sie […] in größte Nähe zu ihrer eigenen […] Wahrheit bringt.”[15]

Diese indirekte Nähe von Skizze und Sein kulminiert in der Mimesis, sie enthüllt „darstellend”, „was das Gegebene als Gegebenes nicht manifestiert”[16]. Skizzen sind dies, und auch dort, wo sie weniger gezeichnet, als geschrieben sind. Dieses Tänzeln des Signifikats im Essay wie in der Skizze ist die Utopie, Denken könne etwas aufschließen, ohne es zu verformen und zu vernutzen, vielleicht nur als Skrupel: „Vervollständigung ohne […] Ganzheit.”[17] Hätte dieser lesenswerte Essay eine Bilanz, sie wäre so – gerade nicht – zu ziehen.

 

[1]Nancy: Die Lust an der Zeichnung, S.21

[2]Moti Fridman et al.: Demonstration of temporal cloaking.

In: http://arxiv.org – arXiv:1107.2062v1 [physics.optics] (Stand: 13.1.2012)

[3]ibid.

[4]Nancy: Die Lust an der Zeichnung, S.11

[5]ibid., S.18

[6]ibid., S.28

[7]ibid.

[8]ibid., S.42

[9]ibid., S.43

[10]Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion des Christentums, übers.v. Esther von der Osten

Zürich, Berlin: diaphanes 2008 (=TransPositionen, Bd 29), S.205

[11]Nancy: Die Lust an der Zeichnung, S.43

[12]ibid., S.49

[13]Bataille, zit. ibid., S.61

[14]Maurice Blanchot: Das Neutrale. Philosophische Schriften und Fragmente,

übers.v. Marcus Coelen, Mona Belkhodja u. Werner Hamacher, hrsg.v. Marcus Coelen

Zürich, Berlin: diaphanes 2010 (=TransPositionen 29), S.94; cf. ibid., passim

[15]Maurice Blanchot: Die Freundschaft, übers.v. Ulrich Kunzmann et al.

Berlin: Matthes & Seitz 2011, S.36

[16]Nancy: Die Lust an der Zeichnung, S.84

[17]ibid., S.116

Jean-Luc Nancy · Peter Engelmann (Hg.)
Die Lust an der Zeichnung
Übersetzung:
Paul Maercker
Passagen
2011 · 152 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-709200025

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