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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Die Reste des Paradieses

Jean Rolins Roman über das Großstadtleben im 21. Jahrhundert

Nach Michel Ney, einem Marschall im napoleonischen Kaiserreich, ist der Boulevard im Norden von Paris nahe der Peripherie benannt. Die europäische Hauptstadt zur Zeit Neys ist die Stadt der Loretten, der Tempel und Heiligtümer, der Passagen, Boulevards, der Panoramen und Katakomben, der Barrièren und Faubourgs. Im 19. Jahrhundert ist Paris die Stadt der umfriedeten Plätze und Künstlerklausen, unwirkliches Terrain, Ort der Heimatlosen, des Spleen und der Grisetten. Paris ist die Stadt der Massen. Die Vermassung, die in erster Linie durch eine zunehmende Verstädterung vorangetrieben wird, weckt rege Skepsis unter den Zeitgenossen, wachsen doch mit ihr auch Armut und Elend in den Straßen im Zentrum und an den Rändern der Hauptstadt.

„Wer wissen will, wie sehr wir in Eingeweiden zuhause sind, der muß vom Taumel sich durch Straßen jagen lassen, deren Dunkel soviel Ähnlichkeit mit dem Schoß einer Hure hat“ schreibt Walter Benjamin in den 1930er Jahren über die Straßen von Paris, die die Bewohner von ihrem eigenen Lebensraum zusehends entfremden. Neben den Elends- und Armenvierteln entstehen parallel hierzu die Wallfahrtsstätten des Konsums mit den Passagen als paradigmatisches Symbol der Massenkultur. Definierte sich die Masse bis dato durch den Mangel, den sie teilte, so ist es seit den 1830er Jahren sowohl die Ware, die in den Warenhäusern wie dem Bon Marché ausliegt, als auch das Selbstverständnis der Menschen als Kunden. In den Wohnvierteln der Besitzlosen bleibt kaum Raum für das eigene Leben. Die Zahl der Einraumwohnungen ist enorm hoch, ebenso die Zahl der Schlafburschen. Ein arges Missverhältnis zwischen Wohnungsgröße und Bewohnerzahl ist überall zu spüren. Dazu tragen im 19. Jahrhundert mehrere Faktoren bei: Geburtenüberschuss, geringere Kindersterblichkeit, Fortschritte der Medizin und Hygiene und schließlich die ökonomische Entwicklung. Dadurch jedoch wird so etwas wie familiäre Privatsphäre unmöglich. Häufig kommt es zu Streit, Gewalt, Misshandlungen, sexuellen Übergriffen und Diebstahl. Die Zahl derer, die sich in der modernen Welt dieses Jahrhunderts noch zurechtfinden, ist gering. In den Köpfen herrscht Platzmangel und durch die Enge der Wohnungen werden Krankheiten schnell übertragen. Der Müll und dessen Entsorgung stellt ein zusätzliches Problem dar, ebenso die Luftverschmutzung und der wachsende Lärm in einer Stadt, in der später, während des Second Empire, die Gesellschaft wie im Rausch „über Leichen und Ruinen hinweg“ lebt, wie Siegfried Kracauer in seinem Buch über Jacques Offenbach schreibt und die Stadt als „das verlorene Paradies“ charakterisiert.

Jean Rolin, Schriftsteller und Kriegsjournalist beschreibt in „Boulevard Ney“ die Fortsetzung dieses verlorenen Paradieses und spannt den Bogen vom 19. zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Jahr 2000 hält er sich mehrere Monate rund um den Boulevard Ney auf und skizziert das Leben jenseits aller menschenwürdigen Umstände.

Rolins Buch ist wie das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm über das andere Paris. Da sind die Müllverbrennungsanlagen von Saint-Ouen, die Hochhäuserphalanx entlang der Boulevards, das Elend rund um die Porte d´Aubervilliers, beschrieben „aus dem mutmaßlichen Blickwinkel Marshall Neys“. Hier haben heute die Huren aus Albanien und Moldawien ihr Zuhause gefunden, zwischen Bierdosen, Plastikverpackungen und Fast-Food-Tüten. Die Bürgersteige sind voller Pissespuren, gebrauchte Kondome liegen hier zwischen all den Sozialbauwohnungen, den Bowlinganlagen, Parkhäusern und Billardsälen, zwischen den Wettlokalen und Schnellimbissen. Eine Zirkusschule hat dort ihre Zelte aufgeschlagen, wo auch eine Halal-Metzgerei und zahllose Lagerhallen zu finden sind. „Vor der zentralen Anlaufstelle an der Porte d´Aubervilliers standen gegen 21 Uhr 30 bereits ein halbes Dutzend Flüchtlinge Schlange für den nächsten Morgen. Unter ihnen war nur eine Frau, offensichtlich eine Afrikanerin im Alter von vielleicht dreißig Jahren und elegant gekleidet, die auf einer Decke in einer dieser Röhren saß, die die Antragsteller benutzen müssen. Sie trug eine Brille und steckte ihre Nase in ein Buch. Selbst wenn man den Umständen Rechnung trug … hätte man gerne gewusst, um welches Buch es sich handelte und was an ihm so toll war, dass es unter so prekären Umständen gelesen wurde.“

Rolin bewegt sich entlang der Drogenumschlagplätze, trifft Junkies und Arbeitslose, Alkoholiker und Transvestiten. Die Kriminalitätsrate ist hoch, eine Tote wird an einer Böschung gefunden. Sie weist über 20 Messerstiche auf.
In diesem Teil von Paris, dem 18. und 19. Arrondissement, im Dickicht der Nachtclubs und Studentenwohnheime, wo Sex in Autowracks oder hinter den Schlachthäusern normal ist, leben Typen wie der von Rolin skizzierte Gérard Cerbère, von dem man gerne glauben möchte, dass er wirklich so heißt. Denn wenn es ihn gibt, dann muss der Höllenhund hier zu Hause sein. Vielleicht trägt er Rapperkluft, wie viele in diesem Viertel, vielleicht ist er ein Veteran aus dem Libanonkrieg wie ein Protagonist aus Rolins Buch, der den Krieg in Paris mit anderen Mitteln fortsetzt. Das Schlachtfeld definiert sich über den Raum zwischen den Wäschereien und den Krankenhäusern, zwischen all dem Nippes, den Eisenwaren und Ersatzteillagern. Im Antlitz all dieser Gruselgestalten nehmen sich die Romanfiguren von Dostojewskij wie glückliche Wohlstandsbürger aus.
An der Porte de la Chapelle sammeln sich die Verlierer und spielen mit ihren Pumpguns und prüfen das Arsenal ihrer Kraftausdrücke bis spät in die Nacht: „Drei Uhr früh: Über den drei Hochhäusern an der Rue Jean-Cocteau zucken Blitze am Himmel; an der Porte de Clignancourt mit ihren … Prostituierten und den Crackdealern, die sich die ganze Nacht über zwischen dem Gitterzaun des Collège Utrillo und den Zäunen der Baustelle abkapseln, geht im Handumdrehen alles in einem Wolkenbruch unter. Einige Mädchen finden an einer Bushaltestelle Zuflucht … Rennerei und Geschrei. Auf Dächern, Trottoirs und Fahrbahn dampft und prasselt es, als wären sie in eine Friteuse getaucht. Im Hotel La Terrasse vögelt im angrenzenden Zimmer ein Pärchen lautlos, fast verbissen.“

Andere nehmen am Boulevard Ney mit verrotteten Schlafsäcken Vorlieb. Pittbulls streunen umher. Die Bewohner der Gegend tragen Narben und wohnen meist in baufälligen Mietshäusern oder Wohnwagen. In regelmäßigen Abständen wechseln die Besitzer von Ladenlokalen, und mit ihnen die Namen der Kneipen, Bars und Cafés. Chlorgeruch durchströmt die Straßen. Es lohnt kaum, die Ratten und Schaben zu zählen, die das Viertel nach Nahrungsquellen durchforsten.

Im Original heißt Rolins Buch „La Clôture“ (2002). La Clôture war der Name einer Filmkulisse, einer Bushaltestellenattrappe, die am Boulevard Ney eines Tages errichtet wurde und ebenso schnell wieder verschwand. Ironie dieses Ereignisses: Die echten Nutten wurden vom neuen Set vertrieben, damit die falschen sie spielen konnten. Was Rolin also als Scheinwelt entlarvt, spiegelt er in doppelter Ironie durch die Titelei seines Buches. Denn auch sein Text verdrängt in gewisser Weise für eine Zeit das wahre Leben am Boulevard, indem er es zur Erzählung, zum Roman umformt. Das Ergebnis aber ist ein mehr als bewegendes Dokument über das Leben in der Großstadt des 21. Jahrhunderts – oder über das, was man für das Leben hält.

Jean Rolin
Boulevard Ney
Übersetzung:
Holger Fock
Berlin
2009 · 220 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-827007971
Erstveröffentlicht: 
glanzundelend.de

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