Wer ist Mr. Straka?
Ein Plädoyer fürs Lesen, fürs Schreiben, für das Buch, in Form eines Mystery-Thrillers à la J.J. Abrams? Man sollte es für nahezu undenkbar halten, doch es funktioniert. Dazu ist allerhand vergleichsweise äußerlicher Aufwand nötig — dem man sich aber letztlich nicht entziehen kann, denn wann stand zuletzt eine so detailverliebte Gestaltung eines belletristischen Titels in den Regalen? Freilich ist die Idee nicht vollkommen neu; Romane, die jede Seite typographisch anders gestalten (Raymond Federman, „Double or Nothing“, 1971) oder die man drehen und wenden muß, um den Windungen der Geschichte zu folgen (Mark Z. Danielewski, „House of Leaves“, 2000; „Only Revolutions“, 2006), gab es in den letzten Jahren durchaus einige, sie erklären das gedruckte Buch selbst zu einem Kunstobjekt, keiner hat jedoch diese Ästhetik konsequenter betrieben als der von J.J. Abrams und Doug Dorst.
J. J. Abrams und Doug Dorst: S. Die Deskription der Gestaltung ist nicht unwesentlich, weil sie eine der vielen Ebenen des Buches darstellt. Der mit einem zu erbrechenden „S“ versiegelte Schuber enthält den Roman „Das Schiff des Theseus“ eines gewissen V.M. Straka, erschienen 1949 in der Winged Shoe Press, New York, und zwar ein aus der Laguna Verde High School Library gestohlenes Exemplar, erkennbar an dem (beschabten!) Rückenschild und den Ausleihstempeln. Mit seinem festen Einband, der Fadenheftung, dem geprägten Titel, den am Rand angegilbten Seiten, inclusive Stockflecken, Verschmutzungen und Knicken vom Gebrauch, könnte es tatsächlich aus einer Zeit stammen, in der die Herstellung von Büchern noch unter dem Gesichtspunkt ihrer Haltbarkeit erfolgte. Ungeachtet solcher nostalgischen Qualitäten haben eine Studentin und ein gescheiterter Doktorand auf den Rändern ein extensives Gespräch in Fußnoten, Anmerkungen und Notizen geführt, wobei diese nicht chronologisch geordnet sind, so daß man nur anhand der Farbe der Stifte die ungefähre Abfolge ermitteln und die in den Marginalien erzählte Geschichte verfolgen kann.
Zunächst zu dem Roman eines gewissen V.M. Straka: Als „Schiff des Theseus“ bezeichnet man ein philosophisches Paradoxon der Antike, das die Frage stellt: Ist ein Schiff, bei dem im Laufe der Zeit sämtliche Teile ausgetauscht wurden, noch immer dasselbe Schiff? Auf ein solches Schiff wird im ersten Kapitel des Romans ein Mann ohne Erinnerung, der sich „S.“ nennt, entführt. Er kennt weder Ziel noch Zweck, seine Fahrt ist eine beinahe aussichtlose Suche nach Identität, die eng mit der Frage nach dem Sinn seines Handelns verknüpft ist. Jede seiner Fluchten und Aufgaben — in der Hafenstadt, der Winterstadt, der Insel der Bücher, der Industriestadt — führt S. wieder zurück zu dem Schiff, dieses scheint unzweifelhaft seine Bestimmung zu sein, auch wenn er lange braucht, um sich in die Mannschaft zu integrieren, eine zusammengewürfelte Truppe mit zugenähten Mündern, die auf dem Orlopdeck einer (scheinbar) verschwörerischen Tätigkeit nachgeht. Die Schiffscrew dezimiert sich im Laufe der — an Land anders als auf dem Schiff ablaufenden — Zeit, und das Schiff selbst ist unzählige Male repariert worden, doch sein Ziel ist dasselbe geblieben: Aufbegehren gegen die Mächtigen der Erde, die die Menschen unterdrücken und die Umwelt schädigen, Kampf gegen die seltsame schwarze Substanz, die alles auflöst, allein mit der Druckerschwärze. Der Romantext entwickelt sich so allmählich zu einer Allegorie auf die vielfältigen inneren & äußeren Gefährungen & Bedrohungen und die riskanten Anforderungen des Schreibens.
Sind die Anschläge, die das Buch schildert, biographische Reflexe des Autors V.M. Straka, oder genereller: Wie stark sind die biographischen Einflüsse in einem Buch? Diesen und anderen Fragen gehen Eric, der Doktorand, und Jen, die Studentin, in ihren Anmerkungen nach. Wer war Straka, hat es ihn überhaupt gegeben, und wer versteckte sich hinter dem Pseudonym, falls es eines ist? Hat seine Übersetzerin dem Autor geheime Botschaften in den Fußnoten hinterlassen? Handelte es sich beim „S“ womöglich nicht um ein Individuum, sondern um eine Schriftstellergruppe, deren Nachfolger noch heute existieren und das Leben der beiden Forschenden, die ihrem streng gehüteten Geheimnis zu nahe gekommen sind, bedrohen? Die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen, auch für den Leser. Eingelegt ins Buch sind nämlich zweiundzwanzig Objekte, Briefe, Photographien, Postkarten, eine Serviette mit einer Kartenskizze usw., die die Authentizität beglaubigen sollen.
Wer die vom Regisseur J.J. Abrams konzipierten und produzierten TV-Serien gesehen hat, wird viele Motive wiedererkennen. Auch das könnte zum Spiel mit den Metaebenen gehören. Der Romantext selbst spart nicht mit literarischen Anspielungen, die einen an Franz Kafka, Joseph Conrad, H.P. Lovecraft, B. Traven und etliche andere erinnern. In den handschriftlichen Anmerkungen setzt sich diese Spannung zwischen Fiktion und Realität fort; da ist von William Butler Yeats, T.S. Eliot, William Carlos Williams die Rede — und von einem britischen Autor namens Paul Hammond Paul, der freilich inexistent und wohl als Anspielung auf Ford Maddox Ford gemeint ist. Insgesamt spart das Buch nicht mit ironischen Hieben gegen die Literaturwissenschaft und ihren Hang, in jedes unscheinbare Detail eine tiefere Bedeutung hineinzulesen. Was hier natürlich die Spannung erhöht, aber auch zu teils absurden Deutungsversuchen führt.
Man könnte dem Buch vorwerfen, es beruhe auf einer reinen Konstruktion. Das stimmt zwar — wie sollte es auch anders sein? Für eine reine Konstruktion ist das Buch indes sehr gut geschrieben, voller pfiffiger Einfälle und Querverweise, Seitenhiebe und Schrulligkeiten, ohne allzu sehr ins Seichte zu geraten. (Nur ein wenig zu lang mag es am Ende geraten sein.) Es verbindet Reflektionen über den Wert des Buches, die Aufgabe des Schriftstellers, die unverbrüchliche Tradition des Schreibens mit massentauglichen Effekten. Und das allein ist begrüßenswert. Außerdem ist die deutsche Ausgabe tatsächlich noch etwas schöner und sorgfältiger hergestellt als die (in China gedruckte) Originalausgabe.
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