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Kritik

„Es gibt für ihn keine halben Arbeiten.“

Zu Jesse Thoor
Hamburg

Die Überschrift stammt aus einem Bericht von Oskar Weisflecker, des Wiener Freundes von Jesse Thoor, den Michael Hamburger im Nachwort zu einer in den Sechzigerjahren erschienenen Ausgabe zitiert. Diese Ausgabe legt der Wallstein Verlag hier wieder vor. Endlich und erweitert. Aber beginnen wir mit dem Anfang (meinem Anfang) dieser Geschichte einer Begegnung.

In Pfronten im Allgäu gibt es am Hang zum Berg, auf dem die katholische Kirche thront, einem der ältesten Häuser des Ortes mit schwarz verwitterter Fassade eine Leihbücherei. Ich weiß nicht, wie man diesen alpenländischen Baustil nennt, auf einem Sockel aus Stein befinden sich die hölzernen Aufbauten, ein oder zwei Stockwerke, und dieses Haus hat einen Keller, in den eine steile Stiege führt. In diesem Keller jedenfalls, oder im Untergeschoss, stehen Kisten und Kartons: ausgesonderte Bücher werden verkauft für einen Apfel und ein Ei. Eine Fundgrube.

Aus einer dieser Kisten zog meine Frau dann auch (oder ich war es, so ganz genau ist diese Legende nicht überliefert) vor ungefähr zehn Jahren einen Band der Bibliothek Suhrkamp mit Gedichten von Jesse Thoor. Herausgegeben war der Band von Peter Hamm. Roter Schutzumschlag.

In den nächsten Tagen dann Lektüre der Rufe und Sonette, die merkwürdigerweise beim Lesen ihre Formenstrenge vegessen machten, vielleicht ein Zeichen der durchdringenden Gedanken, denn die Bildlichkeit bedient hier sich zuweilen einer kirchenmalerischen Symbolik aber auch einer hohen Kunstfertigkeit. Thoor ist als Mystiker zu lesen, denke ich. Und hier dient die Form, zum Teil die Starre die sie bringt, das Ich abzustreifen. Eine Befreiung zu einer höheren Allgemeinheit.

Nun bin ich voll der Armut, die mein Herz umrankt.
Dem Hirten gleich und gleich der frostgeplagten Herde.
Und gleich der Föhre, die entwurzelt in den Abgrund wankt.
(Sonett vom Manne der krank am Wege lag
– er zog von Jerusalem gen Jericho)

Das war meine erste Begegnung mit Texten Thoors. Ein Initial. In der Zeit danach versuchte ich aufzutreiben, was aufzutreiben war, allein es war nicht viel. Ein kurzes Lebensbild (Rufer ohne Fahne), geschrieben von der Schwester Gerda Maria Thom, und der Verweis auf eine Gesamtausgabe, die Michael Hamburger einst besorgt hatte. Letztere war nicht zu finden oder überstieg im Preis meine finanziellen Möglichkeiten.

Jetzt liegt vor mir jener grüne Leinenband, jüngst erschienen im Wallstein Verlag: Jesse Thoor: Das Werk. Er enthält als Vorwort einen Essay von Michael Lentz: „Freiheit ist durchaus nicht mehr mein Argument. Zur Poetik Jesse Thors.“  Sehr gelehrt, aber weniger provokant, als man es vom Leipziger Professor kennt, versucht er dem Geheimnis der Einzigartigkeit Thoors auf den Grund zu kommen. Er lässt anklingen, dass Thoor unbeeindruckt war von den Ismen seiner Zeit, ein Schreiber gewissermaßen losgelöst von Schriftstellerkreisen (allerdings verkehrte er in den zwanziger Jahren in einer Gruppe um Plivier, in der auch Mühsam hin und wieder Gast war.)

Interessant ist an Thoors Werk allemal, wie sich Moralität eine Form sucht, und wahrscheinlich ist die Ausgestaltung des Sonetts durch Thoor auch ein Fluchtweg urchristlicher Spiritualität. Lenz schreibt:

Jesse Thoor betreibt hierbei aber keinen im bürgerlichen Wohnzimmer nachempfundenen Postexpressionismus aus zweiter Hand. Einige seiner Gedichte stellen geradezu religiöse Merkformeln dar, ohne dass sie hierbei hohl und verblasen wirken würden.

Auf Lenz' Essay folgen das lyrische Werk, die Erzählungen, die Briefe (die meisten sind an die Tante Josefine Matschl in Wien gerichtet) und ein wunderbares Nachwort von Michael Hamburger, das einen Lebensaufriss des Dichters bietet, bei dem man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.

Thoor wurde als Peter Karl Höfler 1905 in Berlin geboren. Seine Eltern blieben unentschieden, ob sie in Berlin oder Österreich siedeln sollten, so dass sie sich mehrfach hin- und herbewegten, unter anderem auch während des ersten Weltkriegs, wo sie auf Truppenelend trafen.

Höfler/Thoor erlernte später den Beruf eines Zahntechnikers, was er gegen den Willen seiner Mutter durchsetzen musste, die wollte, dass er einen handfesten Beruf (Klempner, Dreher) erlernen würde,  mit dem man ordentlich verdiente (so ändern sich die Zeiten auch). Er hielt es aber in keinem Beruf lang aus, bewegte sich auf verschiedenen Wegen durch Europa, fuhr zur See. Und schrieb.

Ende der Zwanziger Jahre ermöglichte ihm ein Stipendium der Stadt Berlin (ich war, als ich das las, überrascht, dass es so etwas in den Zwanzigerjahren schon gab) die Arbeit an einem Roman. Dieser Roman scheint verschollen, oder er hat ihn nie geschrieben. Es sind aber eine Reihe Prosastücke entstanden, die Eingang in diese Ausgabe fanden. Allesamt gehen sie von Situationen im Leben eines Protagonisten aus, der doch sehr an Thoor selbst erinnert, schwingen sich dann aber auf eine reflexive und mystische Ebene empor, dass ich nur staunen konnte.

So – wie dieser Arm zu meinem Körper gehört. Und wie mein Leib ein Teil des Ganzen ist, wie auch ihr Leib. Und alles was wir greifen, und alles, was wir nicht greifen können. Sehen Sie doch – bitte sehen sie die Sterne. Sie kreisen und kreisen und immer und ewig. So wie wir, und wie das kleinste Teilchen in uns, neben uns – und überall.

(aus der Erzählung: Hunger)

Diese monistische Position, die Höfler/Thoor hier durchklingen lässt, teilten auch Mitglieder oder Mitläufer der kommunistischen Bewegung, sicher nicht unbedingt die stalinistischen Kreise, die für Formstrenge ein ganz anderes Bewusstsein hatten, aber es gab eben auch andere, eher religiös-revolutionäre Kreise, die die Nähe zu frühen Gemeinden suchten.

Jedenfalls wird mir durch diesen Gedanken verständlich, warum sich dieser Autor für längere Zeit der KP anschloss, wobei offen ist, ob er jemals eingeschriebenes Mitglied war. Jedenfalls schien Thoor seinen Spaß daran gehabt zu haben, auf schwer zugänglichen, aber weithin sichtbaren Dächern die Rote Fahne zu hissen.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung flüchtete er über Österreich und die Tschechoslowakei nach London. Nach 1945 kehrte er nur für kurze Besuche nach Österreich und Deutschland zurück, und auf einem solchen Besuch erlag er 1952 in Lienz einem Herzanfall.

Die literaturgeschichtliche Betrachtung ist geneigt, das Werk eines Autors in Schaffensphasen zu zerlegen, einzelne Texte momentanen politischen Positionen zuzuordnen, aus der Lebenssituation heraus zu interpretieren.

Das kann man sicher tun, bei Thoor aber bietet sich an, nach Strukturen jenseits einer engen Biografie und Zeitgeschichte zu suchen, in einer quasi religiösen Allgemeinheit, die sich mittels strenger Form zum Ausdruck bringt. Vielleicht kann man Jakob Böhme daneben legen. Ein Denkmodell, dem nachzugehen ein Abenteuer ist, gerade anhand der Texte Thoors.

Jesse Thoor
Das Werk
Hg. auf Grundlage der von Michael Hamburger besorgten Edition und mit einem Essay von Michael Lentz. Eine gemeinsame Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung
Wallstein
2013 · 498 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-0527-4

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