Zweifache Waisen: staatenlos und jüdisch
Wir waren auf Speisekammer- und Klofenster spezialisiert, von denen jeder dachte, nicht einmal eine Katze würde hindurchpassen. Ich half ihm hinauf und wartete dann am Ende der Gasse auf seinen Pfiff. Wenn die Luft rein war, pfiff ich ebenfalls, und dann warf er alles, was er gefunden hatte, zu mir hinunter. Ich verschwand sofort damit und traf ihn eine Weile später wieder.
Das "Gefundene" tauschten Lutek und Aron gegen Sachen, die sie brauchen konnten. Kohle für Arons Mutter zum Beispiel.
Es ist ein hartes Leben, für die Erwachsenen und für die Kinder, und vor allem für die Juden. Die Deutschen haben gerade Polen besetzt und beginnen sofort, auch hier die Juden auszurauben, zu demütigen, zu schlagen und ihnen alle Rechte zu nehmen. Da ist es nur gerecht, fand Aron, wenn auch sie ein bisschen stehlen.
Aufgewachsen ist Aron auf dem Land, in einem Dorf an der litauischen Grenze, sein Vater war Händler, seine Mutter Putzfrau. Aron war immer schon ein Tolpatsch:
Mein Onkel erzählte jedem, ich hätte eher Was-hast-du-dir-bloß-gedacht heißen sollen.
Er zerschlug aus Versehen die Arzneiflaschen, indem er sie aneinanderknallte, er ließ die Tiere der Nachbarn aus dem Pferch, immer passierte ihm irgendein Missgeschick. Lernen konnte er nicht gut:
Einen ganzen Tag lang mühte ich mich mit dem Halbkreis und dem Strich des Buchstabens Aleph ab. Aber es war, als sei ich in der Wildnis aufgewachsen: Ich wusste nicht, wie die Gegenstände hießen.
Als sie dann nach Warschau ziehen, wird es auch nicht besser. Für die Fabrikarbeit ist er zu ungeschickt, also hilft er seiner Mutter beim Waschen und pflegt seinen lungenkranken Bruder. Und geht stehlen, wann immer er kann, mit seinem besten Freund Lutek und anderen Kindern, eine hübsche kleine Bande. Das Einbrechen macht ihm Spaß, und schließlich hilft er damit seiner Familie im Ghetto zu überleben:
Stehlen ist immer ein Unrecht
sagt einmal seine Mutter, und er erwidert:
Hungern ist immer ein Unrecht.
Immer mehr rutscht Aron in die Kriminalität ab, aus dem anfänglichen Spiel wird ein normaler Lebenserwerb: Spätestens als sein Bruder stirbt und seine Gang mehr aus Versehen ein Kind tötet, wird deutlich, dass die Zeit der Unschuld vorbei ist. Aber es gibt kein Zurück. Um seinen Vater und seine Brüder vor den Nazis zu retten (erfolglos, natürlich), wird Aron sogar zum Informant für die Gestapo, und wird deshalb von seiner Bande gejagt.
Als der polnische Kinderarzt Janusz Korczak mit seinem Waisenhaus ins Ghetto zieht, lernen die beiden sich kennen, und Korczak wird zu Arons Beschützer. Er nimmt ihn ins Waisenhaus auf, nachdem sein Vater verschleppt und seine Mutter gestorben war. Und dort ist alles anders: Er darf Bilder malen, es werden Geschichten erzählt und Theater gespielt, es ist wie eine andere, geschützte und liebevolle Welt. Einmal sieht er ein Stück, von dem der kleine Junge nur versteht, dass ein jüdischer Held Hitler trifft und Milch und Butter für die hungernden deutschen Kinder kauft. Und sich wünscht, dass Hitler anordnet, "dass alle Erwachsenen, die auf der Straße an Kindern vorbeigingen, beschämt den Kopf senkten, und Hitler versprach es." Nach dem Stück erklärt Korczak, dass die Zuschauer
zweifache Waisen waren - staatenlos und jüdisch. (...) Er sagte zu uns Kindern, wir sollten daran denken, dass wir die Welt nicht so verlassen könnten, wie wir sie vorgefunden hätten. Und daran, uns die Hände zu waschen. Und abgekochtes Wasser zu trinken.
Das bittere Ende für Aron und Korczak kommt am Schluss: Der "König der Kinder" wird mit seinen Waisen, auch mit Aron, nach Treblinka deportiert, wo sie ermordet werden.
Der amerikanische Schriftsteller Jim Shepard erzählt diese grausame Geschichte ganz aus der Perspektive des neunjährigen Aron. Mit wachen Augen, aufmerksam beobachtend läuft er durch Warschau und erzählt seine Geschichte, die Geschichte der polnischen Juden. Mal gewitzt, oft naiv, manchmal komisch, dann wieder wütend macht er dem Leser klar, wie es den Juden vor und nach dem Einmarsch der Deutschen gegangen ist. Er beschreibt den Alltag im Ghetto, manchmal streift er auch die politischen Ereignisse, die er am Rand mitkriegt, aber nie richtig versteht, wie die Aktionen des Warschauer Judenrats.
Geschickt verknüpft Shepard Arons Geschichte mit der von Janusz Korczak, einer historischen Figur. Als Henryk Goldszmit geboren, schuf er in Polen eine kinderfreundliche Pädagogik und übernahm bereits 1912 ein Waisenhaus. Als die Deutschen Polen besetzen, weigert er sich zu fliehen und geht mit den ungefähr 250 Kindern ins Warschauer Ghetto und begleitet mit seiner langjährigen Mitarbeiterin Stefanie Wilcynska die Kinder am 5. August 1942 auch nach Treblinka.
Die Geschichte des Buchs steigert sich: Anfangs ist alles noch leicht und ein Spiel, aber die Stimmung schlägt bald um und steigert sich ins nichtmehrvorstellbare Grauen. Aron erlebt, wie Deutsche seinen Vater schlagen und mit Stiefeln treten, wie sie Juden öffentlich misshandeln. Familienmitglieder verschwinden einer nach dem anderen, auch seine Mutter stirbt entkräftet. Er selbst erfriert beinah, bevor Korczak ihn findet und aufnimmt. Das Buch ist sehr einfach geschrieben, fast an den Ton eines neunjährigen Erzählers angepasst, manchmal kindlich. Gerade diese Sicht auf das Leben, dieses schrittweise Verstehen und häufige Nichtverstehen eines eher naiven kleinen Jungen machen die Erlebnisse besonders eindringlich. Und wenn er etwas beschreibt, ohne es selbst zu verstehen, wird es noch gruseliger für den aufgeklärten Leser und Nachgeborenen. So gefallen ihm etwa die Fliegeralarme, weil
dann alle aus den Betten mussten, egal zu welcher Uhrzeit, und sich die Kinder im Keller trafen und zusammen spielten.
Die Häuserruinen waren
ein toller Spielplatz, und wir fanden immer irgendetwas Erstaunliches
und selbst den Bau der Ghettomauer fanden die Jungen gut, weil sie dort Zementsäcke stehlen und gegen Nahrungsmittel eintauschen konnten.
Bis zum bitteren Schluss, als sie am Bahnhof in Waggons gepfercht werden und Korczak mit einsteigt, obwohl er sich hätte retten können. Seine letzten Worte zu Aron sind wie ein Vermächtnis und eine letzte Ermutigung:
Ein Kind hat das Recht, sich zu entwickeln. Ein Kind hat das Recht zu sein, wie es ist. Ein Kind hat das Recht auf Trauer. Ein Kind hat das Recht zu lernen. Und ein Kind hat das Recht, Fehler zu machen.
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