Damaged Future
Im Jahr 2015 ist Berlin „heruntergewirtschaftet von Immobilienspekulanten, Touristenschwärmen und einer Einwohnerschaft, die bis zum bitteren Ende entspannt bleiben wird, militant entspannt“ – Zeit für eine neue Metropole, die Kreative aus dem Rest Deutschlands und überhaupt der ganzen Welt anlockt. In Jörg Albrechts Zukunftssatire „Anarchie in Ruhrstadt“ wird es das Ruhrgebiet sein, das die Rolle Berlins übernimmt. Aus 53 Städten gründet das „Komitee der Kreativen“ eine Mega-Metropole: Ruhrstadt.
Albrechts neues Werk ist eine Art logische Fortsetzung seines Berlin- und Generationenromans „Beim Anblick des Bildes vom Wolf“. Die hippen Kulturschaffenden aus „Anarchie in Ruhrstadt“ sind nun nicht mehr prekär beschäftigt, sondern fest in ihren jeweiligen Mikrowelten etabliert, die bereithalten, was die jeweilige Kreativbranche braucht. Essen ist für die Film- und Fernsehproduktion zuständig, Dortmund für Mode, Mülheim ist das Zentrum für Video-Gamer, und die Schriftsteller haben sich ins ländliche Wesel zurückgezogen. Mit der Schnelligkeit der Bilder, die die Realität oftmals schon überholt haben, bevor sie überhaupt eintritt, kämpfen Albrechts Protagonisten allerdings noch immer. Ein Glück, dass es im Jahr 2044 Anti-Visu-Schock-Brillen gibt, die nur die Bilder durchlassen, die man auch wirklich sehen will. Dies ist das Jahr, in dem die Haupthandlung spielt, die sich als sehr dünner roter Faden durch das Buch zieht. Rick Rockatansky (geboren 2011) und Julieta Morgenroth (geboren 2014) sind nicht nur durch ihre Mitgliedschaft in der ZASDNMKAHH (Zunft aller Sparten, die nichts mit Kreativität am Hut haben) Außenseiter, sie haben sich zudem einer anarchistischen Bewegung angeschlossen, deren Wirken Albrecht weitgehend im Dunkeln lässt. Nachdem die Regierung abgedankt hat, taumeln die beiden „Auserwählten“ durch eine Landschaft aus verfallenen Universitätsgebäuden, stadtgroßen Einkaufszentren, umgestalteten Zechen und grotesken Filmkulissen, auf der Suche nacheinander. Streckenweise liest sich „Anarchie in Ruhrstadt“ wie eine Parodie auf die dystopische Romantrilogie „Die Tribute von Panem“, nebst Showdown in der Kampfarena. Jedoch bietet Albrecht die weitaus originelleren Ideen – ganz zu schweigen von seiner eigenwilligen, rhythmisch pulsierenden Sprache, mit denen er seine LeserInnen trotz der etwas wirren Handlung Seite um Seite vor sich her treibt.
Rick jagt einem kryptischen Codewort hinterher, während Julieta von einem Therapiehund namens Toxi verfolgt wird. In Rückblenden erzählt Albrecht die Umsetzung des Ruhrcity-Masterplans, eng verwoben mit der Geschichte des Ex-Präsidenten György Albertz, der nun, im Ruhestand, mit Ehemann und heranwachsender Tochter die Vorzeige-Patchworkfamilie gibt. Wer den Überblick verliert, kann sich immer noch auf die einzelnen Szenen dieser Zukunftswelt einlassen, die der Autor detailversessen und mit hintersinnigem Witz schildert: Obdachlose werden per Hyperwatches von der Regierung überwacht, unliebsame Erinnerungen lassen sich löschen, indem man sich einen Gedächtnistilger auf die Stirn drückt, und Castrop-Rauxel – unlängst umbenannt in Castro-Rochelle – ist zur Gated Community geworden. Auf der Straße begegnen einem Hologramme, die Fragen stellen wie „By the way, wie viele tropische Fische starben für diese Jacke?“ Und die Turbo-Kreativen, die sich so etwas ausdenken, kauen während ihrer Nachtschichten eine Droge namens Krantschú, ein Ultrahochkonzentrat aus Protein, Vitaminen und Ballaststoffen.
Albrecht (Jahrgang 1981) versprüht auf 240 Seiten ein Ideenfeuerwerk aus Sci-Fi-Parodie, Gesellschaftskritik und popkulturellen Bezügen. Seine Kritik an Monopolisierungs- und Kapitalisierungstendenzen steht nicht als moralische Message hintenan, sondern fügt sich elegant in die Story ein. Besonders amüsant zu lesen sind seine – vermutlich aus eigenen Erfahrungen genährten – Karikaturen des Kulturbetriebs. So verwandelt sich eine Autorin in Sekundenschnelle mittels Drag-Performance in ihren eigenen Verleger, ein Haufen Spieleentwickler diskutiert darüber, wie sich die jüngsten Unruhen am besten in ihr neuestes Spiel „Anarchy in Ruhrcity“ integrieren lassen, und der „goldene Downloadpfeil“ geht derweil an einen Song, der aus nichts anderem als den Geräuschen eines Internetmodems aus den 1990er Jahren besteht.
Dass hinter dieser comicbunten Zukunftsvision mehr steckt als der bloße Spieltrieb eines Cyberpunk-Nerds, zeigen allein schon die Kapitelüberschriften, in denen Albrecht neoliberale Ideologien augenzwinkernd zerlegt. Titel wie „Mein Manager gab mir diesen Terminplan für meine Keuschheit“, „Wie Liebe als Arbeit begreifen, aber nicht als Job?“ oder „In meiner Homestory mochte ich mich viel mehr als in real“ könnten als Aphorismen mühelos für sich stehen. Oder sind sie als Titelvorschläge für ein neues René-Pollesch-Stück gedacht?
Immer wieder scheint der melancholische Abgesang auf die Versprechungen der Postmoderne durch das quietschbunte Sci-Fi-Szenario. So lässt zum Beispiel der transsexuelle Cabriopilot Excel Rose in einem Nebensatz die Aussage fallen: „Ich kann die alten Fassaden nur zum Teil halten, die neuen müssen gefaket sein.“ Auch dies könnte fast ein Pollesch-Zitat sein. Wie sein Theaterkollege besitzt Albrecht die außerordentliche Fähigkeit, in einem einzigen Dialogfetzen zugleich cool und witzig und akademisch zitierfähig zu sein.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben