Lächle für Familienwerte
Sex und Gewalt lassen die Kassen klingeln, so das allgemeine Credo im Literatur- wie auch im Filmbusiness. Aber gilt das auch, wenn das Traumpaar derart queer, ironisch und subversiv daherkommt? – Betrachtet man die Erfolgsgeschichte von Joey Comeaus Debütroman „Lockpick Pornography“, anscheinend ja. Bereits die ersten im Internet veröffentlichten Kapitel lösten einen kleinen Hype aus; die 2005 publizierte erste Auflage der Printversion war nach wenigen Monaten vergriffen. Konsequenterweise veröffentlichte ein größerer kanadischer Verlag 2012 eine erweiterte Fassung des Buches; nun liegt endlich auch eine deutschsprachige Übersetzung vor.
Von Anfang an liest sich „Lockpick Pornography“ so überdreht wie ein Comic (was sicherlich kein Zufall ist, siehe Comeaus Webcomic-Projekt „A Softer World“): Aus Wut über das Toleranzgesäusel eines homophoben Politikers tritt der Ich-Erzähler den Fernseher des Freundes seines heimlichen Liebhabers ein. Daraufhin lässt er sich von einem anderen Lover in eine Hetero-Gegend kutschieren, um dort einen neuen Fernseher zu klauen. Und erwähnt ganz nebenbei:
Ich habe mir ein T-Shirt gedruckt, auf dem steht: ,Ich breche in Hetero-Häuser ein, um in ihren Hetero-Küchen zu masturbieren.‘
Der Fernseher, beginnen wir zu begreifen, ist kaum mehr als ein Vorwand; hinter dem Einbrechen an sich hingegen steckt eine komplexe Lebensphilosophie. Das Schlösserknacken habe er aus einem MIT-Handbuch gelernt, verrät der Ich-Erzähler wenig später. Nicht ohne Schadenfreude, denn schließlich besteht darin seine Mission: Die Mainstreamkultur auseinanderzupflücken und gegen sich selbst zu verwenden. Und um die im Titel anklingenden Analogien zwischen Sex und Einbruch noch expliziter zu machen, philosophiert er weiter:
Schlösser zu knacken ist fast so, wie queer zu sein. Du nimmst die Welt, wie du sie siehst, und nicht wie dir gesagt wird, dass du sie sehen sollst.
Schon bald hat er sein genderqueeres Dream-Team zusammengestellt: Sein Liebhaber Richard, dessen neueste Eroberung Alex, der gerade sein Coming-Out als Transmann durchläuft, sowie Michelle, die sie in einer Lesbenbar aufgabeln. Versteckt hinter den Masken queerer Cartoon-Ikonen (Ernie und Bert, Velma und Wonder Woman) legen sie ihre Finger in die Wunden eines allzu glattgebügelten American Dream.
Jede Nacht machen wir uns auf, um traditionelle Familienwerte so gut wir können zu gefährden
lautet ihr Motto, und nicht immer ist ganz klar, ob die Gewalt nun einem höheren Zweck dient, oder doch die pure Lust an der Zerstörung siegt. Aus irgendeinem Echoraum hört man Darby Crash, das Enfant Terrible des Westcoast Punk, schreien „Macht endlich was kaputt!“ und kann sich sicher sein: Käme nicht so viel Sex in diesem Roman vor, Kinder hätten einen Heidenspaß an so viel zügelloser Anarchie.
In gemeinsamen Nacht-und-Nebel-Aktionen schmuggelt die Gender-Guerilla Pro-Homo-Kinderbücher in die Regale von Grundschulen und fügt bei dieser Gelegenheit den selbstgemalten Familienbildern der Kinder noch ein paar queere Extras hinzu, wie „Papas Freund“ oder „meine allerliebste Knutsch-Kusine Judy“. Bei McDonalds verlangen sie nach dem Geschäftsführer und tragen mit tiefstem Ernst die Beschwerde vor: „Diese Cola hat mich schwul gemacht.“ Droht der Ich-Erzähler doch einmal zur Ruhe zu kommen, terrorisiert er Frau Hubert mit nächtlichen Telefonanrufen, in denen er sie über die Zwänge eines monogamen, heteronormativen Lebensstils aufzuklären versucht. Vorträgen à la „Gender ist keine Dichotomie“ ist zwar anzumerken, dass die Originalversion von „Lockpick Pornography“ bereits über zehn Jahre alt ist (zumindest diejenigen, die schon mal von Judith Butler gehört haben, werden an diesen Stellen vermutlich anfangen zu gähnen), aber, nun ja – die Message zumindest ist klar.
Bei manchen Aktionen bleibt einem allerdings das Lachen im Hals stecken, und auch den Protagonisten selbst plagen ungewohnte Gewissensbisse. Wenn er zum Beispiel im Einkaufszentrum einer jungen Frau in den Bauch boxt, einfach nur, weil sie aussieht wie ein Paris-Hilton-Verschnitt, kann man sich schon mal fragen: Sind das notwendige Kollateralschäden im Kampf gegen ein ungerechtes System? Oder werden hier eindeutig Grenzen überschritten?
Ebensowenig macht er davor Halt, das eigene Nest (die vermeintlich so kuschelige LGBTI-Community) zu beschmutzen, indem er beispielsweise, verkleidet als Drag King, auf einem Lesbenball ein Gedicht mit dem Titel „Was zum Geier stimmt nicht mit Lesben, denn Schwänze sind super“ vorträgt. Klar, aus jeder Zeile trieft hier die radikale Abkehr vom Assimilierungsgehabe jener Schwulen und Lesben, die nichts anderes wollen als heiraten, Kinder adoptieren und ein Häuschen in der Vorstadt beziehen. Doch in die zornige Subversion mischt sich immer wieder auch ein Gefühl existenzieller Melancholie. Will der Ich-Erzähler wirklich jede und jeden vor den Kopf stoßen? Oder auch manchmal einfach nur angenommen und geliebt werden?
Irgendwann hat sich (auch beim Lesen) die erste Lust an der anarchischen Gewalt erschöpft. Und dann erweist sich „Lockpick Pornography“ immer da am interessantesten, wo der Ich-Erzähler seine Velma-Maske – und damit seine Attitüde des coolen Gender-Gangsters – einmal fallen lässt.
Frau Hubert zum Beispiel, über die wir nichts wissen, außer dass sie mit einem Mann zusammenlebt, ist vielleicht gar nicht so stupide und unterdrückt, wie wir zunächst annahmen. Im Lauf der Geschichte entwickelt sich fast so etwas wie eine zarte Beziehung zwischen ihr und ihrem anonymen Anrufer, der an einer Stelle sogar zugibt, dass er in seinem Opfer „meine letzte Hoffnung auf Verständnis von der heterosexuellen Welt“ sieht.
Eine andere Frage, die Comeau immer wieder aufwirft, ist die nach Theorie und Praxis. Wie genderqueer ist seine Clique eigentlich wirklich, wenn es ans Eingemachte, an die nackten Fakten geht? Zwar kann der Ich-Erzähler, wenn er als Drag King einen Lesbenball besucht, ganz nonchalant sagen:
Es gibt nichts Besseres, als als Frau auszugehen, die als Mann angezogen ist, und zu sehen, wie das Mädchen an der Tür die Augen verdreht, weil sie meint, dass dir keiner den Mann abkauft.
Sätze wie dieser klingen so über-queer, dass sich sämtliche Gender-Theoretiker_innen eine Scheibe davon abschneiden könnten. Aber was passiert, wenn Alex, der sich inzwischen als schwuler Mann identifiziert, Sex mit ihm haben will?
Ich denke, dass du nichts vögeln wirst, das ohne Schwanz geboren wurde
wirft Alex ihm gekränkt an den Kopf. Und tatsächlich: Der Protagonist muss feststellen, dass ihn, der in der Theorie den totalen Gender-Fuck predigt, ein Gummipenis einfach nicht anmacht. Wie Comeaus Figuren mit diesen Bruchstellen zwischen Theorie und Praxis umgehen, bisweilen auch erbittert kämpfen, macht über weite Strecken den Reiz des Buches aus. Während Richard zu der lakonischen Einsicht gelangt: „Ein Arsch ist ein Arsch“, erklärt Michelle, dass sie nun mal Frauenkörper erregend findet:
Also entscheide ich mich für die Orgasmen. Sie sind zahlreich und befriedigend; wenn ich dafür an ein konstruiertes Ideal glauben muss, dann bitte.
Gender als Fetisch? Wenn das die Antwort ist, dann hat Comeau sie mal saukomisch, mal nachdenklich und insgesamt ziemlich überzeugend dargelegt.
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