Dann gehe ich erstmal Kaffee trinken
Jetzt also die Jahre 1975 bis 1979: Maarten Koning macht Karriere und ist todunglücklich darüber. Er ist nicht mehr nur der Leiter der größten Abteilung innerhalb des Amsterdamer Volkskundlichen Instituts, sondern zugleich auch Stellvertreter des Direktors. Außerdem sitzt er, sehr zum Leidwesen seiner Frau Nicolien, in zahlreichen Kommissionen und Gremien und knüpft so unfreiwillig ein wachsendes Netzwerk, welches etliche neue Verpflichtungen nach sich zieht.
Die Unfähigkeit, ein an ihn herangetragenes Anliegen abzulehnen, prägt auch den Arbeitsstil innerhalb Maartens Abteilung, die sich der Dokumentation und Erforschung der niederländischen Volkskultur widmet. Seine Handvoll Mitarbeiter – allen voran die wissenschaftlichen Beamten Ad Muller und Bart Asjes – wehren sich ebenso standhaft wie erfolgreich gegen jede Form von Arbeit, wenn sie nicht wegen Kopfschmerzen, Pusteln im Hals oder genereller Müdigkeit gleich ganz zu Hause bleiben. Die Tage, an denen sie im Büro erscheinen, werden nicht selten mit grundsätzlichen Diskussionen darüber verbracht, was einem Menschen zugemutet werden könne und – deutlich ausführlicher – was eben nicht.
Das hat zur Folge, dass Maarten die meisten Aufgaben selbst übernimmt, um sich die Ergebnisse anschließend in den Abteilungsrunden basisdemokratisch zerreden zu lassen. Doch selbst sein Langmut kennt Grenzen, und diese werden in Band 4 von „Das Büro“ mehr als einmal ausgetestet. Als ihm Ad einen Urlaubsantrag auf den Tisch legt, nachdem er monatelang aufgrund von „Temperatur“ nicht im Büro erschienen und anschließend für drei Wochen in die Ferien verschwunden war, ist für Maarten
der Boden des Fasses in Sicht.
Aber eben noch nicht erreicht. Er gibt Ads‘ Bitte letztlich statt, aus Sorge, ansonsten als autoritärer Chef zu gelten.
Eine Falle, in die er auch mit Bart tappt, der sich rundweg weigert, an der neugegründeten Abteilungszeitschrift „Bulletin“ mitzuarbeiten (für Kenner: das Nachfolgeorgan von „Ons Tjidschrift“, das in Band 3 für einige Aufregung gesorgt hatte). Stattdessen stellt er vage einen anderweitigen Beitrag zum Gelingen des Projekts in Aussicht. Als Maarten diesen nach zweijähriger Wartezeit einfordert, ist Bart darüber so aufgebracht, dass er erst einmal krank wird – und Maarten selbst zur Feder greift! Das Ergebnis ist ein Aufsatz über die Grundlagen der volkskundlichen „Wissenschaft“ (eine Disziplin, der Maarten, das nur am Rande, jede Wissenschaftlichkeit rundweg abspricht), der Bart dermaßen empört, dass er sich in seiner Arbeitsverweigerung vollauf bestätigt fühlt.
Doch gibt es davon abgesehen auch immer wieder verbindende Momente zwischen den Kolleginnen und Kollegen der Abteilung. Etwa wenn es darum geht, das Aufstellen von heimtückischen Mäusefallen im Institutskeller zu sabotieren, verletzte Vögel von der Straße zu retten und gesund zu päppeln und nicht zuletzt der Hass auf Autos und vor allem deren Besitzer, die in den Augen von Maarten & Co. nicht mehr als ein verlängerter Arm der Ölindustrie sind und per se unter dem Verdacht der Nazi-Kollaboration stehen (ein Dauerthema , nicht nur der niederländischen Nachkriegsgeschichte, sondern auch unter den Mitarbeitern des Büros).
Und auch sonst werden die Zeiten härter. Anton Beerta, der frühere Direktor des „Büros“ und enge Vertraute Maartens, liegt nach einem Schlaganfall im Pflegeheim. Sein Lebenspartner Karel weigert sich, ihn nach Hause zu holen, weil er sich dazu nicht imstande fühlt. Jeden Dienstag macht sich Maarten auf den Weg, um Beerta den neuesten Klatsch und Tratsch aus seiner Abteilung zu erzählen; und ihm – im Auftrag seines Vorgesetzten Balk – die Zustimmung abzuringen, das „Büro“ anlässlich seines 80. Geburtstags in A.P. Beerta-Institut umbenennen zu dürfen.
Was auf den ersten Blick nach einer schönen Geste aussieht, hat einen handfesten Hintergrund. Dem „Büro“ sitzt das Ministerium im Nacken. Dort wundert man sich zunehmend darüber, was die Volkskundler den lieben langen Tag auf Kosten der Steuerzahler denn so alles treiben – oder besser gesagt: nicht treiben! Ein offizielles Schreiben, was eigentlich aus der zwischen 1969 und 1974 geförderten Erstellung einer Bibliografie des geistlichen Liedes in den Niederlanden geworden sei, bringt Balk in Bedrängnis – zumal offenbar keiner genau zu wissen scheint, ob überhaupt jemals daran gearbeitet wurde:
immer noch besser investiert, als wenn sie davon F-16-Kampfflugzeuge gekauft hätten.
Das Problem wird gelöst, indem dem Ministerium eine bemerkenswerte Ausweitung des Forschungsvorhabens dargelegt wird, die aber auch entsprechend mehr Zeit bedürfe – womit man sich einige Jahre Ruhe erkauft hat.
Gleichwohl wächst die Sorge, dass es der Finanzierung des „Büros“ über kurz oder lang an den Kragen gehen könnte. Was zu dem Plan führt, das Institut nach Beerta zu benennen, der nicht nur ein prominenter Wissenschaftler, sondern vor allem ein begnadeter Netzwerker ist. Dahinter steckt die (vermutlich zutreffende) Annahme, dass man einem so „namhaften“ Institut doch nicht einfach die Pforten schließen könne. Am 6. September 1979 ist es soweit, das „A.P. Beerta-Institut für Volkssprache, Volkskultur und Volksnamen“ wird ins Leben gerufen. Bezeichnenderweise in Abwesenheit Beertas, den einzuladen offenbar niemand in Erwägung gezogen hatte.
Auch im vierten Teil der 7-bändigen „Büro“-Serie dreht sich die Handlung konsequent um die kleinen und großen Nichtigkeiten des beruflichen Alltags im Volkskundlichen Institut. Private Aktivitäten und Kontakte der Protagonisten spielen keine Rolle. Mit Ausnahme von Maartens Frau Nicoline, die nicht müde wird, den Büroalltag ihres Mannes kritisch zu kommentieren. Ginge es nach ihr, wäre die Welt eine linkspazifistische Tauschwirtschaft, in der persönliche Ambitionen auf einer Stufe stehen mit den Motiven lustgetriebener Tierquäler. Das aber geht selbst Maarten mitunter gewaltig gegen den Strich. Ob die Ehe der beiden glücklich ist, gehört zu den Fragen, die sich auch nach knapp 4.000 Seiten „Büro“-Lektüre nicht abschließend beantworten lassen.
Das unterscheidet Voskuil von dem anderen manischen Ego-Romancier unserer Zeit, dem Norweger Karl Ove Knausgård, dessen monumentales „Min Kamp“-Projekt derzeit weltweit für Aufsehen sorgt. Wo Knausgård auf radikale Subjektivität und anscheinend grenzenlose Selbstentblößung setzt, tritt Voskuil hinter seine Figuren zurück und verortet sie im Kontext ihrer Zeit. Das Ergebnis ist ein feinsinniges und zugleich bitterböses Genrebild der niederländischen Gesellschaft der Nachkriegszeit, das den Vergleich mit den großen Gesellschaftschroniken des 19. Jahrhunderts nicht scheuen muss.
Die Veröffentlichung des fünften Teils von „Das Büro“ im Verbrecher Verlag ist für Frühjahr 2016 angekündigt.
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