Von jüdischen Punks, Cowboys und Mafiosi
Im Anfang war der Punk. Und der Punk war jüdisch. So oder ähnlich lautet eine These Steven Lee Beebers, der in seinem 2006 erschienenen Buch The Heebie-Jeebies at CBGB’s den jüdischen Wurzeln des amerikanischen Punks nachspürt. Dieses Buch hat den „langnachrollenden Donner“ (Walter Benjamin) ausgelöst, als den seine Herausgeber - u.a. Jonas Engelmann - den Sammelband We are ugly but we have the music verstehen. Dieses 2012 erschienene Buch, das Ergebnis zweier Tagungen, enthält eine Fülle an Beiträgen zu bislang weitgehend unbeachtet gebliebenen Spielarten und Ausdrucksformen jüdischer Subkultur und alternativer Identitätsentwürfe.
Der durch Beebers Publikation ausgelöste Donner hallt auch in Engelmanns Band Wurzellose Kosmopoliten. Luftmenschen, Golems und jüdische Popkultur nach. Engelmann macht in seinen Kurztexten die rebellischen jüdischen „Gespenster“ sichtbar, die in der jüngeren Kultur- und Popgeschichte oft unbemerkt ihr Unwesen treiben. In Gestalt von Tieren, Indianern und Gangstern entkamen die geistigen Kinder jüdischer Künstler zumindest auf der Leinwand und auf der Buchseite der Gefahr für Leib und Leben und den alltäglichen Anfeindungen. Doch viele Jahrzehnte nach der Shoah entschweben fiktive jüdische Figuren und Alter Egos noch immer den Stereotypisierungen und den engen Schubladen, und noch immer erobern sich ihre Schöpfer*innen so die Deutungshoheit über die eigene Identität zurück.
Der Journalist, Verleger und Literaturwissenschaftler Engelmann versammelt in seinem Büchlein alternative jüdische Identitätsentwürfe aus den letzten anderthalb Jahrhunderten und macht auf frappierende Parallelen aufmerksam. Es mag verwegen wirken, Franz Kafka und Hannah Arendt in einem Atemzug mit Comicautor Art Spiegelman oder Antifolker Jeffrey Lewis zu nennen und ihnen damit auch eine gewisse Punk-Attitüde zuzuschreiben. Abwegig ist es allerdings noch lange nicht. Im ersten Thementeil über künstlerische Verwandlungen und Tierwerdungen macht Engelmann nachvollziehbar, warum Kafkas Volk der Mäuse und Spiegelmans Maus entfernte Verwandte sind. Nicht minder selbstreflektiv und innovativ sind die jüdischen Vertreter des (Post-)Punk, die mit ihrer provokanten Aneignung von Nazi-Symbolen ihrerseits ein unorthodoxes Spiel mit den Identitäten treiben.
Von den Selbst-Verwandlungen und den anarchischen Maskeraden gedanklich nicht weit entfernt sind die „Luftmenschen“ und Vogelwesen, denen Engelmann im zweiten Teil nachspürt. Dass sich beispielsweise Paul Auster in seinem Roman Mr. Vertigo ähnlicher Motive bedient wie etwa Bruno Schulz und Maxim Biller, scheint schlüssig; taucht doch der wurzellose „Luftmensch“, d.h. der heimatlose und von der Hand in den Mund lebende „schwebende Proletarier“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder in der jüdischen Literatur auf.
Abgerundet wird Engelmanns kleine Kulturgeschichte des jüdischen „Chors der Wandernden“ durch einen dritten Thementeil, der sich jüdischen Selbstinszenierungen als Indianer, Gangster und Golems widmet. Führt Engelmanns kulturhistorische Fährte zunächst von Kafkas Indianer-Fantasien zu den Outlaws der Beat Generation bis hin zu den vertonten Identitätscollagen des Singer-Songwriters Adam Green, widmet er sich abschließend dem Golem-Mythos in einem Genre, wo man ihn nicht unbedingt vermutet hätte: im Comic. Nicht weniger überraschend sind auch biografische Enthüllungen über den Superschurken Magneto der Kult-Comicreihe The X-Men – vom jüdischen Pendant zur berüchtigten Mafia-Organisation Cosa Nostra ganz zu schweigen.
Engelmann gelingt ein spannender Einblick ins Thema „jüdische Popkultur“, der mit seinem ungewöhnlichen Fokus auch die Neugier derer weckt, für die dieses Thema Neuland ist. Dafür sorgen nicht zuletzt die vielen gattungs- und genreübergreifenden Verweise. Im Anhang gibt er der Autor seinen Leser*innen ein komplettes Personenregister an die Hand; anstelle von verstreuten Anspieltipps liefert er außerdem gleich eine ganze Diskographie mit. Wer We are ugly bereits kennt, wird in Wurzellose Kosmopoliten allerdings vielen Künstlern und Themenkomplexen wiederbegegnen, die im Sammelband ausführlicher behandelt wurden. Besser, man hebt sich die deutlich umfangreichere Lektüre für hinterher auf.
Die Idee, sich mit dem widerständigen Spiel mit der jüdischen Identität und den fiktiven Fluchtlinien in so unterschiedlichen Gattungen wie Film, Comic und Weltliteratur auseinanderzusetzen, ist schlicht genial; Engelmanns szene- und genrespezifische Sachkenntnis ist beeindruckend. Umso bedauerlicher ist es, dass die oft nur flüchtige Behandlung der Themen und die teilweise etwas beliebige Verknüpfung von Künstlern der unterschiedlichsten Gattungen und Epochen das Vergnügen an der Lektüre der klug und unterhaltsam geschriebenen Beiträge ein wenig trüben. Dass so viele wichtige Namen untergebracht werden, ist schön, geht aber zu Lasten der Übersichtlichkeit und Stringenz; zumal der Band kaum mehr als 100 Seiten stark ist. So wirkt z.B. das kleine Kapitel zur an sich überaus interessanten „Radical Jewish Culture“ John Zorns – insbesondere mit dem Exkurs zu Lanzmanns Film Tsahal – im „Indianer-und-Golem-Kapitel“ merkwürdig deplatziert.
Wer nach der durchaus kurzweiligen Lektüre Lust auf mehr hat, sollte sich über Neuerscheinungen aus dem Ventil Verlag auf dem Laufenden halten. Freund*innen der alternativen Popkultur sei besonders die von Engelmann mit herausgegebene Zeitschrift „testcard. Beiträge zur Popgeschichte“ ans Herz gelegt. („Wurzellose Kosmopoliten“ erschien übrigens in der vom Magazin präsentierten Reihe mit dem niedlichen Titel „testcard zwergobst“!) Themen wie „jüdische Punks und Underdogs“ wird glücklicherweise aber auch im größeren Buchformat Raum gegeben. Als erster Band der von Ventil herausgegebenen Reihe „Jüdische Identität und Subkultur“ war We are ugly ein vielversprechender Auftakt. Man darf gespannt sein auf weitere Einblicke in jüdische Traditionserneuerungen und subversive Subtexte. Golems, jüdische Gangster und Comichelden verdienen definitiv mehr Präsenz und Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Feuilleton und im Fachdiskurs, denn:
Punks not dead. Noch lange nicht.
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