Außer Dienst!
In Oscar Wildes „Dorian Gray“ ist immer wieder von einem Buch die Rede, dessen Titel dem Leser allerdings verborgen bleibt. Tatsächlich handelt es sich dabei um Grays einzige Lektüre, vorhanden jedoch gleich in mehrfacher Ausführung und – wichtiger noch – in mannigfaltiger bibliophiler Ausstattung. Für jeden Gemütszustand ein eigenes Exemplar, wenn man so will.
Es handelt sich um Joris-Karl Huysmans 1884 veröffentlichten Roman „A rebours“, zu Deutsch: „Gegen den Strich“. Seit Erscheinen gilt das Stück als eine Art Bibel der Décadence, die jedoch trotz aller Bekanntheit kaum Leser fand (und findet). Floressas Des Esseintes, der Protagonist der Geschichte, entflieht der Banalität des Alltags; Fantasien, Drogen, Düfte und Farben formen fortan seine Wirklichkeit. Am Ende jedoch steht nicht der Tod, sondern die Rückkehr in den Alltag. Darin unterscheidet sich Des Esseintes von Gray, und in gewisser Weise auch Huysmans von Wilde.
Denn im richtigen Leben war Huysmans nicht der Dandy und intellektuelle Snob, den man hinter seiner Erzählung vermuten würde (wenngleich er auch nicht dem entsprach, was man im 19. Jahrhundert eine bürgerliche Existenz genannt hätte. Zu unstet waren u.a. seine Beziehungen zu Frauen). Vielmehr war Huysmans über gut vier Jahrzehnte mittlerer Beamter im französischen Innenministerium, am Ende in der respektablen Funktion eines „Stellvertretenden Leiters des Politischen Büros der Direktion des Amts für Öffentliche Sicherheit“, wie man dem Nachwort zu „Monsieur Bougran in Pension“ aus der Feder von Daniel Grojnowski entnehmen kann. Seinen Dienst versah er stets „mit Auszeichnung“.
Besonders reizvoll vor diesem Hintergrund ist das Thema der erstmals auf Deutsch vorliegenden, nur 17 Seiten kurzen Satireerzählung, die der Berliner Verlag Friedenauer Presse jetzt in einem gut lesbaren Heftchen vorgelegt hat. Der Inhalt ist kurz zusammengefasst: Monsieur Bougran, langjähriger verdienter Beamter des mittleren Dienstes im französischen Innenministerium, wird Opfer einer haushaltspolitischen Sparmaßnahme. In Einklang mit der Neuregelung des Zivilrentengesetzes – „Artikel 30“ – vom 9. Juni 1853 wird er vorzeitig in Pension geschickt. Für ihn bricht eine Welt zusammen. Verzweifelt irrt er durch Paris und kann das Unglück, fortan nicht mehr den gewohnten Dienst versehen und mit seinen geliebten Akten hantieren zu dürfen, gar nicht fassen. Bis ihm die Erleuchtung kommt. Er verwandelt sein privates Arbeitszimmer eins zu eins in sein früheres Büro. Ihren Höhepunkt erreicht die Maskerade schließlich, als Bougran auch noch seinen früheren Büroboten anstellt, wenngleich ihn das in die Nähe des finanziellen Ruins treibt (nicht zuletzt da seine Haushälterin die Gunst der Stunde nutzt und ebenfalls eine Gehaltserhöhung für sich heraushandelt). Seine Tage verbringt Bougran nun damit, Bescheide zu Eingaben zu verfassen, die er sich selbst ausgedacht und zugesandt hat (da er ein strenger Staatsdiener ist, fallen diese fast immer negativ aus). Als er eines Tages über einem besonders kniffeligen Fall brütet, sackt er an seinem Schreibtisch zusammen – und stirbt. Schlaganfall in Folge einer Überanstrengung des Gehirns, so die Diagnose des herbeigeholten Arztes.
Bemerkenswert an der kleinen Geschichte ist auch, dass sie, obwohl bereits 1888 verfasst, bis 1964 unveröffentlicht blieb. Ursprünglich als Auftragsarbeit für eine englische Literaturzeitschrift geschrieben, trat der Herausgeber nach Lektüre des fertigen Produkts von seinem Angebot zurück. Der Beitrag entsprach ganz und gar nicht dem, was er sich von Huysmans erwartet hatte. Er hatte sich, wie er dem Autor schriftlich mitteilte, nicht zuletzt in Kenntnis dessen bisheriger Werke, etwas erhofft, was vor allem die weibliche Leserschaft ansprechen würde. Das sei mit der vorliegenden Erzählung leider nicht das Fall. Ob der Verfasser nicht vielleicht einen zweiten Anlauf unternehmen wolle? Huysmans wollte nicht und das Stück verschwand in der Schublade. Nach 125 Jahren liegt es nun in deutscher Übersetzung vor.
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