Eine andere bleierne Zeit
Ohne zu wissen, wovon der Roman handelt, hat mich sein poetischer Titel angezogen. Doch schon nach ein paar Seiten teilt der Erzähler, der vierzigjährige Jura-Professor Antonio Yammara, dem Leser mit, dass er von den gewalttätigen Jahren in seiner Heimat Kolumbien erzählen wird, jenen Achtziger Jahren, als der Drogenboss Pablo Escobar das Land mit Attentaten überzog. Und diese Verbrechen, schreibt er, hatten mein Leben wie Satzzeichen strukturiert, wie die überraschenden Besuche entfernter Verwandter, auch wenn ich es damals kaum so empfunden hatte.
So wie viele von uns sich daran erinnern, wo sie am 11. September 2001 gewesen sind, durchzieht diese Frage das ganze Buch: Wo waren Sie, bei diesem Mord? Wo, als in dem Passagierflugzeug die Bombe explodierte? Der Erzähler war vierzehn Jahre alt, als der Justizminister und sechzehn als der Herausgeber von El Espectador ermordet wurden, neunzehn beim Tod des Präsidentschaftskandidaten Luis Carlo Galán.
Aber erst nach dem Tod seines älteren Billard-Freundes Ricardo Laverde, der 1996 in Mafiamanier von einem fahrenden Motorrad aus ebenfalls erschossen und Antonio, der neben ihm läuft schwer verletzt wird, setzt er sich damit auseinander, wie sehr dieser gewaltsame Hintergrund sein Leben und das Leben einer gesamten Generation beeinflusst hat.
Immer trafen wir uns irgendwo privat, erinnern Sie sich? Wir mieden die öffentlichen Plätze. Gingen zu Freunden, zu entfernten Bekannten, jede Wohnung war besser als ein öffentlicher Platz.
Diese Sätze, sagt Maya Laverde, Ricardos Tochter, die Antonio besucht, um mit ihrer Hilfe Ricardos Leben, von dem er nur weiß, dass er Pilot war und im Gefängnis gesessen hat, zu rekonstruieren.
Ich weiß nicht, was uns das Erinnern nützt, welche Vorteile es uns bringt oder welchen Schaden, noch, wie sehr das Erlebte sich beim Erinnern verändert, aber es ist mir ein Bedürfnis geworden, mich genau an Ricardo Laverde zu erinnern.
Er erfährt, dass Ricardo in einem verarmten Elternhaus aufwächst und deshalb die Familie die junge, idealistische Amerikanerin Elaine Fritts, die für das von John F. Kennedy ins Leben gerufene Peace Corps arbeitet, zur Untermiete aufnimmt. Ricardo und Elaine beginnen eine Affäre und wollen schließlich heiraten. Ricardo leidet unter den häuslichen Verhältnissen.
Ich werde dieses mittelmäßige Leben, dieses Haus hinter mir lassen, in dem es schon eine Tragödie ist, wenn uns eine Familie zum Essen einlädt, weil wir sie dann ebenfalls einladen müssen.
Also will Ricardo schnelles Geld und es stellt sich heraus, dass er schon in den Anfängen für Escobar arbeitete und mit kleinen Flugzeugen erst Marihuana, später Kokain in die USA geschmuggelt hat.
Immer größere Risiken geht er ein, bis er schließlich verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird.
Durch Elaines Arbeit im Peace Corps wird der Blick geweitet. Der Leser erfährt zum einen vom harten Leben der armen Bauern:
Reiten sollte man können. Und einen kräftigen Magen haben. Man muss viel mit den Nachbarschaftskomitees zusammenarbeiten, Gemeindeentwicklung. Sie wissen ja, Alphabetisierung, Ernährung, derlei Dinge.
Andererseits wird durch Elaine und ihre Peace Corps Freiwilligen der Blicke auch auf den Vietnam-Krieg, My Lai, Malcom X und sogar auf den Tod von Sharon Tate gerichtet. So gelingt es Juan Gabriel Vásquez zu zeigen, wie das private, individuelle Leben seiner Protagonisten von dem politischen Hintergrund der Zeitgeschichte beeinflusst ist.
Elaine also zieht ihre Tochter Maya allein auf, doch irgendwann hält sie es in Bogotá nicht mehr aus und geht in die USA zurück. Als Ricardo endlich aus dem Gefängnis entlassen wird, setzt er alles daran, sich mit Frau und Tochter zu vereinen. Elaine ist bereit, sich mit ihm zu treffen und nun kommen die Dinge endgültig ins Fallen. Denn die Boeing 757, die sie nach Bogotá bringen soll, kommt vom Kurs ab und prallt zerschellt an einen Berg.
Man hört einen Schrei, der abbricht, oder etwas, was einem Schrei ähnelt. Man hört ein Geräusch, das ich nicht identifizieren kann, nie werde identifizieren können: ein Geräusch der Leben, die gerade erlöschen, dazu das berstende Material. Es ist das Geräusch der Dinge, die aus dieser Höhe fallen, ein abgebrochenes Geräusch und deshalb ewig, ein Geräusch, das niemals endet und seit jenem Nachmittag in meinem Kopf weiterrauscht , keinerlei Anstalten macht, zu verschwinden, das dort auf immer in meinem Gedächtnis hängt wie ein Handtuch an der Stange.
Um an die Black Box zu kommen, um sie bezahlen zu können, hat Ricardo sich noch ein letztes Mal auf ein Drogengeschäft eingelassen und wird deshalb erschossen.
Juan Gabriel Vásquez hat einen packenden Roman geschrieben. Vor dem Hintergrund politischer Ereignisse erzählt er von den unterschiedlichen Versuchen seiner Protagonisten mit dem Leben zurechtzukommen. Und sprachlich werden die Erwartungen des Titels mehr als erfüllt.
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