Fotos aus Nähe und Distanz
Ihren Roman Der Mann im Goldrahmen hat die österreichische Autorin Judith Gruber-Rizy ein Gedicht von Gregor M. Lepka vorangestellt, das die Stimmung des Buches wiedergibt.
Wenig nur über dem See
der Nebel, wie ein Gedanke,
der absichtslos sich verdichtet
über dem Unverstand meiner Gefühlswelt.
In dem Roman geht es um eine etwa fünfzigjährige Fotografin, die in einsamer Umgebung täglich Fotos von Wolken, Bächen, Bäumen macht und sich gleichzeitig Erinnerungen an eine kurze Beziehung mit einem zwanzig Jahre jüngeren Mann hingibt.
Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich 300 Kilometer entfernt von der Stadt W., in der sie normalerweise lebt, in eine Wohnung in einsamer hügeliger Landschaft zurückgezogen, wo sie keine Fluchtmöglichkeiten in Museen, zu Ausstellungen, in Konzerte, ins Theater, zu Treffen mit Freunden und Bekannten hat. Sie will allein sein heroben, um ein Jahr lang ein Kunstprojekt durchzuführen, das darin besteht, jeden Tag aus demselben Blickwinkel ein Foto zu machen.
Jeden Tag ein Foto. Ich werde jeden Tag um halb zehn Uhr am Vormittag ein Foto machen. Ein Jahr lang. Aus dem Kabinettfenster hinaus auf den Kirschbaum, das Gartenhäuschen, auf den Kirchturm. Der kleine Apfelbaum rechts neben dem Kirschbaum, dahinter das Haus mit dem Dachfenster, und zwei Tannen umrahmen den Blick.
Dieses tägliche Foto ist für die alleinerziehende Erzählerin ihrem Sohn David, Freunden und ihrer Verlegerin gegenüber der Vorwand für die selbstgewählte Einsamkeit. Aber auch sie selbst braucht das Foto als äußeren Zwang, um dieses Leben ein Jahr lang auszuhalten. Denn wie der Leser ein paar Seiten weiter erfährt, ist ihr Leben ein wenig aus dem Lot geraten, erdrückt von Erinnerungen, von Selbstvorwürfen.
Diese beziehen sich auf den IT-Spezialisten Stephan, mit dem sie vor drei Jahren vier Wochen lang intensiv zusammenlebt, um dann selbst die Beziehung schweren Herzens zu beenden. Denn so sehr sie sich von diesem jüngeren Mann angezogen fühlt und ihm gegenüber so etwas wie Liebe empfindet, so sehr verunsichert sie der große Altersunterschied und der Wunsch, Stephan vor David geheim zu halten.
Nun also macht sie jeden Tag ihr Foto vom Kirschbaum und dieses Motiv gibt den Rhythmus des Textes vor, durchzieht den gesamten Roman. Mit der Fotografin erlebt der Leser die Jahreszeiten, die Kirschblüte, die Ernte und schließlich das Herbstwetter und den anbrechenden Winter. Jeden Tag durchstreift die Erzählerin aufs Neue die Landschaft, auf der Suche nach Wolkenformationen oder Bäumen in einem bestimmten Licht.
Immer wieder werden die Streifzüge von Erinnerungen unterbrochen. Vor allem sind es Gedanken an Stephan, aber auch an die Kindheit von David, an sein Heranwachsen und an die Sommer, die sie mit ihm hier verbracht hat. Und es war auch ein Ausflug mit ihm, bei dem sie den ihr damals unbekannten Stephan auf einem Stein sitzend an einem See fotografierte.
Ich sehe ihn heute noch auf diesem Stein am Ufer des grünen Sees sitzen. Nicht nur, weil ich dieses Foto seit damals groß ausgearbeitet in meinem Atelier hängen habe und eine kleinere Version davon hier heroben auf meinem Schreibtisch steht. Ich habe dieses Bild im Kopf. Es hat sich mir eingebrannt.
Es ist ein leiser und doch eindringlicher Roman, den Judith Gruber Rizy geschrieben hat. Die Natur wird ausführlich und in wunderbaren Nuancen beschrieben.
Ich habe mir vorgestellt, wie ich die trockenen sonnigen Herbsttage hoch über dem Nebel genießen könnte, wenn der Himmel dieses zerbrechliche, ins Weiße gehende Zartblau annimmt, das es nur im Herbst über der Nebelgrenze gibt.
Gleichzeitig gelingt es der Autorin die zunehmende Zerrissenheit und Einsamkeit der Erzählerin zu zeigen, die nicht über die Trennung von Stephan hinwegkommt und von Beginn an unsicher ist, ob sie sich richtig verhalten hat. Aus Furcht, Stephan würde sie eines Tages zu alt finden oder David würde die Beziehung nicht akzeptieren, schickte sie Stephan weg, ohne ihn ernst genommen, ohne eine Fortsetzung der Beziehung in Betracht gezogen zu haben. Als er andeutet, er habe bisher noch keine Frau fürs Leben gefunden, traut sie sich nicht, diese Aussage auf sich zu beziehen.
Heute frage ich mich, ob er diesen Satz vielleicht meinetwegen gesagt hat. Und verwerfe den Gedanken sofort wieder, weil er mir noch immer absurd erscheint. Und dennoch, es könnte doch sein, es wäre eine Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die ich damals unter dem Ahornbaum nicht in Betracht gezogen habe.
Jetzt im Alleinsein ist sie so auf die Erinnerung fixiert, dass sie zunehmend ihre sozialen Kontakte vernachlässigt. Selbst David, der inzwischen studiert, empfindet sie manchmal als Störung. Ihre Freundinnen ruft sie kaum an und manchmal nimmt sie nicht einmal deren Anrufe entgegen. Schließlich kommt sie auf die Idee, das Seefoto von Stephan in einen Goldrahmen zu stecken und es bei ihren Wanderungen durch die Natur zu fotografieren.
Stephans Foto auf einer Wiese zwischen Margeriten und Sauerampfer, unter einem Mostobstbaum, neben einem alten Schuppen, am Rand eines Waldweges, am Ufer des Teichs, neben Holunderbüschen, vor einem Getreidefeld, hinter einem Zaun oder auch davor, an eine Hauswand gelehnt, neben der Hauptstraße, auf dem Brunnen am Marktplatz.
Weil ich Stephan hier heroben überallhin mitnehme, weil ich ständig an ihn denke, weil er mich immer begleitet. Das möchte ich dokumentieren.
Je reduzierter die äußere Handlung wird, umso intensiver spürt der Leser die Verzweiflung der Protagonistin. Sie fühlt sich allein und Stephan ausgeliefert. Und schließlich versteht der Leser, dass ihre Verzweiflung mit Schuldgefühlen zusammenhängt. Kurz vor Silvester ruft Stephan sie an, aber sie bleibt abweisend. Und mit dem Ende des Romans (das nicht verraten wird) liest man die ganze Geschichte noch einmal unter anderer Perspektive neu.
Wenn ich im Jänner zu Stephan gesagt hätte, komm vorbei, wenn du in W. bist, wäre alles anders gekommen. Vielleicht würden wir dann heroben zusammenleben, oder in W. oder irgendwo im Westen in seiner Wohnung. Mein Leben wäre in diesen elf Monaten völlig anders verlaufen, dessen bin ich mir sicher. Jedenfalls jetzt, hier, in diesem Moment. Morgen schon werde ich wieder denken, es war richtig, es nicht zu sagen.
Judith Gruber-Rizy hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, in dem sich wie in einem Mosaik die Einzelteile allmählich zusammenfinden. Er ist spannend und berührend zugleich.
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