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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Destroy Something

In ihrem Romandebüt „Aller Liebe Anfang“ lotet Judith Hermann die Asymmetrien von Nähe und Distanz aus.
Hamburg

Es war abzusehen: Auch die ziellos umherirrenden, nymphenhaften Protagonistinnen aus „Sommerhaus später“ werden irgendwann erwachsen. Stella, die Hauptfigur in Judith Hermanns Debütroman „Aller Liebe Anfang“, könnte eine von ihnen sein. In Stellas Erinnerungen an die Zeit, als sie mit ihrer besten Freundin Clara im Zentrum einer quirligen Großstadt ein freies, unbeschwertes Leben führte, erstehen immer wieder die flirrenden Geschichten aus Hermanns Erzählband von 1998 auf.

Seitdem sind 16 Jahre vergangen. Stella ist 37 und lebt in einem Einfamilienhaus am Rand einer namenlosen Stadt. Ihr Mann Jason ist Fliesenleger und oft für Tage oder sogar Wochen auf Montage; Tochter Ava geht in den  Kindergarten. „Was wir wollten, ist das, was wir haben – Mann, Kind, Dach über dem Kopf, ein abgeschlossenes Leben“, schreibt sie an Clara.

Doch ist dieses Idyll keineswegs unantastbar. In einem originellen Kunstgriff beschreibt Hermann das Interieur des Hauses zunächst in Abwesenheit ihrer Figuren, wie den Schauplatz eines zukünftigen Verbrechens. Unweigerlich drängt sich die Frage auf, wer hier eigentlich beobachtet. Der bald darauf eingeführte Stalker? Oder ist der Leser selbst der Voyeur?

Man schaut in Stellas allzu perfektes Leben hinein wie in ein aufgeklapptes Puppenhaus und fühlt sich unweigerlich an Henrik Ibsens Stück „Nora oder Ein Puppenheim“ erinnert. Auch wenn Stella nicht nur Ehefrau und Mutter ist, sondern nebenher als mobile Krankenpflegerin arbeitet – dieser Job scheint für sie weniger Einkommensquelle als Eigentherapie zu sein, ein Versuch, dem Kreisen um die eigene gepflegte Langeweile für ein paar Stunden zu entkommen, ohne sich auf allzu ungewohntes Terrain zu begeben – hier wie dort werden schließlich Popos abgewischt und Äpfel in mundgerechte Spalten geschnitten.

Die parataktische Aneinanderreihung banaler Hauptsätze, die Detailversessenheit der Beschreibungen macht Stellas erdrückende Monotonie beinahe körperlich fühlbar. Zugleich schimmert überall die Fragilität des Vorstadtidylls durch; es entsteht eine beklemmende, nach einigen Kapiteln fast schon zu penetrante „Ruhe vor dem Sturm“-Atmosphäre. Dass Hermann mit Auslassungen und Ungesagtem arbeitet, ist nichts Neues. In „Aller Liebe Anfang“ jedoch wabert das Ungesagte so dermaßen deutlich um die Banalitäten herum, dass es Sätze wie „Der Zaun hält hier einiges zusammen“ wirklich nicht mehr gebraucht hätte. Wozu der Aufwand mit den bedeutungsschwangeren Auslassungen, wenn letztendlich alles klar ausformuliert dasteht?

Gerade meint am, am minutiös geschilderten Gefängnisalltag zu ersticken – „Stella wäscht ein Glas ab um drei Minuten vor zwölf“ – da klingelt es. Endlich! Das lang dräuende Unbekannte steht vor der Tür, in Gestalt eines eigentlich hübschen, etwas verwahrlosten jungen Mannes, der mit Stella sprechen möchte.

Sie weist ihn ab. „Mister Pfister“ geht, doch wird er wiederkommen. Jeden Tag. Er scheint zu wissen, wann Stella allein ist. Hinterlässt Botschaften im Briefkasten, dringt immer tiefer ein in Stellas Leben, obwohl sie ihm nie die Tür öffnet. Hermann versteht es, in der Tradition guter Suspense-Literatur, die näher rückende Bedrohung wie steigendes Wasser zu schildern, die Stella bald bis zum Hals steht.

Wieso verständigt sie nicht eher die Polizei? Auch hier liegt ein Vergleich mit anspruchsvollem Horror nahe: Egal ob Zombies, Aliens oder ganz gewöhnliche Psychopathen – die Eindringlinge legen das bloß, was eh schon im Argen lag, kriechen durch die Ritzen einer ohnehin brüchigen Fassade. Fast scheint es, als wolle sich etwas in Stella von Mister Pfister vorführen lassen, was kaputt ist in ihrem Leben. Als bräuchte sie diesen Fingerzeig.

Überhaupt ist der geheimnisvolle Mann mit dem comichaften Namen die schillerndste, komplexeste Figur des Romans – obwohl, oder vielleicht gerade weil er möglicherweise nur in Stellas Kopf existiert. Er ist der schöne Fremde, der Stella sowohl verschreckt als auch fasziniert (einer der Alten, die Stella betreut, spricht gar vom „coup de foudre“, dem „Liebesgewitter“), der bedrohliche Stalker, der Katalysator für Veränderungen. Er ist derjenige, der ausfüllt oder zumindest vorgibt auszufüllen, was zwischen Stella und Jason fehlt – Nähe, Leidenschaft, Kommunikationsbereitschaft.

Stella selbst wird immer besessener von ihrem Stalker, versetzt sich schließlich so intensiv in seine Gedankenwelt hinein, dass ihre Perspektiven verschwimmen. Immer wieder dreht Hermann die Verhältnisse um, beleuchtet die Grauzonen zwischen Verliebtsein und Obsession, zwischen erwünschten und unerwünschten Grenzüberschreitungen.

Eine „erschreckende Distanzlosigkeit“ war schließlich auch die erste Annäherung zwischen Stella und Jason, als sie sich einfach im Flugzeug neben ihn setzte, obwohl noch ein Platz zwischen ihnen frei war. Als sie den ganzen Flug über seine Hand umklammert hielt. Im einen Fall führt eine solche Grenzüberschreitung in eine Ehe, im anderen Fall zur Strafanzeige. Ein Einbruch in die Intimsphäre anderer Menschen ist letztendlich auch Stellas Beruf. Ganz nebenbei wirft „Aller Liebe Anfang“ interessante Fragen zur Symmetrie bzw. Asymmetrie zwischenmenschlicher Beziehungen auf. Die Erkenntnis, wie selten es eigentlich vorkommt, dass zwei Menschen zur gleichen Zeit dasselbe Maß an Nähe vertragen oder zulassen können.

Das, was Jason zu wenig an Worten macht, macht Mister Pfister zu viel. Auch wenn seine Briefe ungelesen in einem Schuhkarton verstaut werden. Es geht nicht darum, was er zu sagen hat, sondern um die Dringlichkeit, die er in Stellas abgeklärtes Leben bringt, die Erinnerung an emotionale Extreme, an Offenheit und Spontaneität.

In gewisser Weise zeigt Mister Pfister damit nicht nur auf, woran es Stella mangelt, sondern auch, was dem Roman fehlt: Etwas mehr Leidenschaft, Unberechenbarkeit und Widersprüchlichkeit hätten dem Buch getan. Doch der reduzierte Hermann-Stil, die still-melancholische Ästhetik lassen keine Ausbrüche zu. „Destroy something“ steht lediglich als ironischer Wink auf einer Tasse im Büro der Krankenpflege. Weder Stella noch ihre Schöpferin nehmen sich diese Aufforderung zu Herzen.

Judith Hermann
Aller Liebe Anfang
S.Fischer
2014 · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-10-033183-0

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