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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Keine Albert Schweitzers“

Jürgen Theobaldys Roman über organisierten Betrug und persönliche Verstrickungen in der Versicherungswelt ist ein Abgesang auf den Schweizer Finanzkapitalismus
Hamburg

Auch wenn die Menschen immer älter werden, sterben müssen sie irgendwann doch. Das aber hat Thomas Renner übersehen. Stattdessen pflegt der Angestellte der Schweizer Krankenversicherung Corsa seine exakt 2.658 auf dem Papier allesamt hochbetagten, im wirklichen Leben aber gar nicht existenten Karteileichen so gut, dass praktisch nie einer das Zeitliche segnet – und das über einen Zeitraum von immerhin vier Jahren. Kein Wunder, dass die Aufsichtsbehörden, die die Ausgleichszahlungen zwischen den Versicherungen regeln, misstrauisch werden. Bei einer Betriebsprüfung bricht das Kartenhaus schließlich in sich zusammen. Die Corsa geht in die Pleite und die Verantwortlichen treffen sich vor Gericht wieder, wo sie sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen überziehen.

So ließe sich Jürgen Theobaldys neuer Roman „Rückvergütung“ in aller Kürze zusammenfassen. Tatsächlich aber sind die Verstrickungen und Hintergründe, die der Schweizer Romancier und Lyriker hier auf knapp 150 Seiten ausbreitet, um ein Vielfaches komplexer.

Es beginnt damit, dass Renner neu bei der Corsa ist. Aus seinem vorherigen Job bei einer Bank wurde er wegen Veruntreuung von Kundengeldern entlassen. Für die Corsa ist das aber kein Argument gegen seine Anstellung; im Gegenteil, wie sich schon bald herausstellt. 

Seinen Kundenstamm hat Renner von einem etwas dubiosen, mittlerweile verschollenen Vorgänger übernommen. Was sich hinter dem mysteriösen Kürzel D 2010 verbirgt – nämlich ein veritabler Versicherungsbetrug, der nicht nur zusätzliche Millionen in die Kasse spült, sondern auch die Voraussetzung dafür ist, dass die Corsa ihre Beiträge so niedrig halten kann – erschließt sich ihm erst nach und nach. Da jedoch hat er bereits die positiven Seiten des Geschäfts kennen und schätzen gelernt: Das Geld fließt so stetig und umfänglich, dass er ein geheimes Konto gründen muss, um den plötzlichen Reichtum vor der eigenen Frau zu verstecken; und mit der Gattin des Chefs hat er sich in eine leidenschaftliche Affäre gestürzt. Dass er damit in eine Falle getappt und er der eigentlich Betrogene ist, bemerkt er erst im Nachhinein.

Die Beziehung zu Jeannine – so der Name der Geliebten – entpuppt sich nämlich als ein von Anfang an abgekartetes Spiel, das einzig dem Zwecke diente, ihn noch engmaschiger zu kontrollieren. Als der Versicherungsschwindel schließlich auffliegt, wird umgehend Renners Frau über das treulose Treiben ihres Mannes unterrichtet.

Vor Gericht ist Renner auf sich alleine gestellt. Seine beiden Vorgesetzten verweisen auf ihre Unwissenheit und waschen die Hände in Unschuld. Renners verzweifelter Versuch, das Komplott gegen ihn in seiner ganzen Durchtriebenheit aufzudecken, gerät zur Farce. Dass er selbst vor einem Verhältnis mit der Frau des eigenen Chefs nicht zurückschreckt war – „ein Verstoß wider Treu und Glauben“ –, wird als Indiz für seine besondere Unverfrorenheit gewertet. Als dann auch noch sein Vorgänger vor Gericht auftaucht und von all den illegalen Machenschaften nichts gewusst haben will, ist Renners Verteidigungsstrategie – wie auch er selbst – am Ende. Seine Frau hat ihn verlassen; über der Gefängnistoilette kotzt er sich aus. Dieser Schlussszene darf man getrost Symbolcharakter beimessen.

Jürgen Theobaldys Roman „Rückvergütung“ ist eine bitterböse Abrechnung mit dem Finanzkapitalismus der Schweiz, der sich jedoch ohne weiteres auch anderenorts hätte zutragen können. Der Maximierung des persönlichen Nutzens und Vorteils steht im Falle der Aufdeckung die Strategie entgegen, lediglich so viel einzuräumen, wie nicht mehr abgestritten werden kann. Der Rest wird auf andere abgewälzt oder durch geschickte Verschleierung mit dem Deckmantel des Nichtwissens für nichtig erklärt.

Auch wenn Rückvergütung sicherlich nicht das Buch zur globalen Krise des Finanzkapitalismus ist, so handelt es sich doch um einen der seltenen zeitgenössischen Romane in deutscher Sprache, der dort angesiedelt ist, wo sich das wirkliche Leben sowie die grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Prozesse unserer Zeit abspielen.

Jürgen Theobaldy
Rückvergütung
Wunderhorn
2015 · 146 Seiten · 19,80 Euro
ISBN:
978-3-88423-491-4

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