Geheime Nachsaison
Ein größerer Kontrast ist kaum vorstellbar: Mitten im Zweiten Weltkrieg, in einem deutschen Kriegsgefangenlager bei Hoyerswerda, beginnt Julien Gracq einen Roman über eine Gruppe wohlhabender, leicht gelangweilter junger Leute zu schreiben, die in den 1920er Jahren einen Sommer in einem bretonischen Ferienort verbringen. Nach Kriegsende erscheint „Un beau ténébreux“ – Gracqs zweiter Roman – im Pariser Kleinverlag José Corti; fast 70 Jahre später erreicht uns aus dem Hause Droschl endlich eine deutsche Übersetzung: „Der Versucher“.
„Das Hôtel des Vagues sticht in See wie ein Schiff zu seiner Durchquerung des Sommers“, schreibt der Ich-Erzähler Gérard in seinem Eintrag vom 30. Juni – mit an Bord: Die melancholische, innerlich ruhelose Christel, umgarnt von Jack, einem jungenhaft linkischen Poeten, und das frisch verheiratete Paar Irène und Henri, deren Differenzen sich bereits auf der Hochzeitsreise abzeichnen. Der Berichterstatter ist ein grüblerischer Literaturwissenschaftler, der die Vorgänge im „Hotel des wandernden Müßiggangs“ akribisch in sein Tagebuch notiert.
Eine kleine, illustre Runde, zusammengestellt nach bester Seifenoper-Manier. Ihre von Anfang an brüchigen Dynamiken werden sich Im Laufe der Urlaubswochen auf unvorhergesehene Weisen verschieben, ausgelöst durch das Auftauchen des geheimnisvollen Allan. Schon als dieser das erste Mal den Speisesaal betritt, schlägt er alle Anwesenden in seinen Bann. Allein sein Gang, heißt es, besitzt Genie. Allans Herrschaft bedarf keiner Worte; vielmehr rührt seine unanfechtbare Überlegenheit von einer „verwirrenden, engelsgleichen Kaltblütigkeit“, einer „brutal skandalösen Immoralität“, die auf die übrigen Feriengäste entweder umgehend abstoßend oder ungemein anziehend wirkt.
In der ausufernden, bisweilen redundanten Beschreibung von Allans Strahlkraft vermischen sich die Anfänge der Psychoanalyse mit den großen Themen der Surrealisten, denen sich Gracq zugehörig fühlte: Traum und Vision, (Frei-)Tod und Lebenswillen, Verfremdung und Irrationalität. Allan bündelt, therapeutisch ausgedrückt, die unterdrückten Triebe seines Umfelds. Symbolisch steht er für das von den Surrealisten anvisierte Moment des „Dépaysement“ – wörtlich: „Entheimatung“ – das die übrigen Charaktere aus ihren gewohnten Bahnen werfen wird.
Streckenweise liest sich „Der Versucher“ wie eine Mischung aus André Bretons „Nadja“ und Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“. Der hellsichtigen Intelligenz des schönen Fremden stellt Gérard dessen amoralische Tierhaftigkeit gegenüber („der reglose Jaguar auf seinem Ast“), doch auch die Fühllosigkeit von (Kampf-)Maschinen klingt an. So befällt Gérard auf dem Weg zu einem Picknick auf einer Burgruine angesichts Allans waghalsigen Fahrstils das Gefühl, „unmittelbar vor dem Einsatz neben einem Jagdflieger zu sitzen“.
Atmosphärisch greift Gracq die Traditionen der Gothic Novel des 18. und 19. Jahrhunderts auf: die zugewucherte Burgruine im Mondlicht, Christels geisterhaft wallendes weißes Kleid, die Überlast der Adjektive „geheimnisvoll, schmerzhaft, leidenschaftlich“ – die schiere Anhäufung schwarzromantischen Klischees dürfte heutigen Leser_innen reichlich überstrapaziert erscheinen.
Doch bevor man bei Sätzen wie „Das stille Mondlicht fiel von der Parkseite in das Zimmer und warf ein schwarzes Kreuz auf das Bett“ die Augen verdreht, sollte man sich vielleicht noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass es 1945 noch keine Grufti-Szene gab, deren Kreuz- und Totenkopfsymbolik sinnentleert im Mainstream weiterlebt.
Man muss Gracq zugutehalten, dass er Allans vorgebliche Authentizität immer wieder subtil zu brechen weiß. Gérards Ton schwankt zwischen absoluter Hingabe und kritisch-ironischer Distanz. Mal ist er völlig gefangen vom Heilsbringer-Satan, dann wieder merkt er nüchtern an: „Er suchte eine Wirkung – er erhofft sich irgendeinen Vorteil von der Fremdartigkeit, die er zur Schau stellt.“
Surrealistisch angehauchte Traumsequenzen und Verweise aufs Theater tun ihr übriges, um Allans Willen zur Selbstinszenierung bloßzulegen. Letztendlich ist er weder der bloße Scharlatan, den Irène in ihm sehen möchte („Diese ständige Werther-Miene, diese Maskerade“), noch „der große, verdächtige, schwer definierbare Unbehauste“, den seine Anhänger in ihm erblicken. Allan wird ein Geheimnis bleiben, sowohl für Gérard als auch für Gracqs Leserschaft.
Zum Eklat bzw. zur Katharsis kommt es in der „geheimen Nachsaison“, die am ersten September mit einem Maskenball beginnt. Der Anwesenheit diverser Literaturliebhaber sei Dank erscheinen die Gäste verkleidet als Figuren aus Romanen und Gedichten – Allan und seine Begleitung als „Die Liebenden von Montmorency“, ein fiktives Paar, das am Ende des gleichnamigen Gedichts gemeinsam Selbstmord begeht. Ein Schlüsselmoment des Buches, in dem Maske und Selbst, Original und Kopie verschmelzen.
Eine wirkliche Handlung gibt es in „Der Versucher“ nicht. Die Figuren treffen sich zu Strandspaziergängen oder Rendezvous im Wald, wo sie ausgefeilte Dialoge über Ästhetik, Moral oder das Recht auf einen freiwilligen Tod führen. Einige dieser Themen wirken heute überholt oder zumindest in ihrer Ernsthaftigkeit recht angestrengt. Im Kontext der Entstehungszeit, vor dem Hintergrund surrealistischer Debatten und der existenziellen Erfahrungen, die Gracq im Zweiten Weltkrieg machen musste, sind sie jedoch hochinteressant.
Darüber hinaus lohnt sich der Roman allein aufgrund seiner wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, in denen Gracq die bretonische Küste zum Inbild von Melancholie und Vergänglichkeit stilisiert: „dieser schlecht am Boden vertäute Strand, dieser vage, bewohnte Saum, dieser Saugrüssel der bitteren Fluten, der einem großen Körper, sobald die Hitze wiederkehrt, das Blut bis unter die Haut treibt“.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben