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Kritik

So gescheit wie man sein kann

Also wohin gehört dieses Buch nun nach der Lektüre in meiner Bibliothek eingereiht? Zu den Reiseberichten? Zu den Essays? Zu den Tagebüchern? Ich kann es schwerlich zerstückeln und eine Teil dahin und den anderen dorthin stellen. Am liebsten täte ich es schon. Am besten wird sein, ich platziere es zu den anderen Büchern von Karl-Markus Gauß in die Abteilung „erzählende Prosa“.

Offensichtlich ist der Erzähler Gauß ein begeisterter Spaziergänger, der nicht nur durch die Gegend latscht, sondern genau hinsieht. Wer zu schauen versteht, der sieht auch etwas. Auf diese Weise entdeckt er eine ganze Menge. Das kann ein Schriftsteller sein, von dem man noch nie gehört hat oder einer, von man ebenfalls der Meinung ist, dass er mehr gelesen werden sollte. Zu letzterer Kategorie zähle ich etwa Ivan Cankar oder Louis Paul Boon. Jean Genet hat seine Anhänger, da muss nicht missioniert werden.

Sehr erfreulich, von Fontevraud zu hören, wie ein Kloster sich in ein Gefängnis verwandelt hat, das auch Jean Genet beherbergte, und sodann zu einem Museum mutierte. Erstaunlich ist, dass sich KMG nicht zufrieden gibt, was sich ihm vordergründig anbietet, er muss dahinter blicken, genauer schauen. Das wiederum macht ihn als Autor spannend und seine Belesenheit kommt seiner Leserschaft zugute. Hinzu fügt sich seine Formulier- und Fabulier-Lust. Insbesondere dieses Zweigespann ermöglicht es ihm, Wissen und Information mit angenehm lesbaren Geschichten zu kombinieren. Selbst Kleinigkeiten erlangen auf diese Weise eine Gültigkeit. Er erschafft Mythen und Figuren, die des Erzählens und der Erwähnung wert sind, macht auf Gegenden, Sprachen, Dichter oder Ereignisse aufmerksam, die sonst nicht oder wenig bekannt sind. Formulierungen wie „…um der einen Illusion Anschauung zu geben, der Illusion, dass die Zeit stehen geblieben sei…“, indem er ein Museum beschreibt, in den der Dichter Tudor Arghezi noch immer präsent sei, zeichnen den Lesegenuss aus. Davon gibt es zahlreiche weitere Beispiele.

KMG verknüpft in 13 Kapiteln Geschichten und Geschichte, historische Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen zu einem persönlich gefärbten narrativen Konglomerat."Es ist ein Buch, an dem ich sehr lange geschrieben habe - was für mich etwas Besonderes ist, weil ich sehr rauschhaft, konzentriert arbeite und Bücher oft in sechs Monaten fertig habe. Dann muss ich sechs Monate schlafen gehen und schreibe kaum eine Zeile. Bei diesem Buch war das anders. Ich habe sehr lange daran geschrieben. Ich habe versucht, darin alles, was ich weiß, mit meiner Lebensgeschichte und Entwicklung komplett zu verbinden." verriet KMG in einem Interview im STANDARD.Und weiter: "Wenn ich heute aufhören würde zu schreiben, ich wäre sofort ein dümmerer, aber auch ein schlechterer Mensch. Nur beim Schreiben kann ich so gescheit sein, wie ich sein kann. Nur beim Schreiben kann ich so moralisch sein, wie ich sein möchte, und auch so unmoralisch übrigens. Ich brauche das Schreiben, um zu dem zu gelangen, was mir möglich ist."

Bei aller Datenfülle - Kopfzerbrechen bereitet, dass Vuk Karadžić 1864 in Wien gestorben ist, am St. Marxer Friedhof bestattet wurde, jedoch „seine Gebeine erst 1897, zu seinem hundertsten Todestag, nach Belgrad überführt und noch einmal mit nationalem Pomp bestattet“ wurden. Ein runder Geburtstag war es auch nicht. Da hat ein Lektor nicht aufgepasst. Das fällt am Rande auf und stört das Fazit nicht:„Im Wald der Metropolen“ ist ein bemerkenswertes Buch! Und: Wenn Autobiographisches, Erlebtes und Erlesenes aufeinander stoßen, Wissen mit subjektivem Blick sich miteinander verquicken, kann nur Karl-Markus Gauß dahinterstecken.

Karl-Markus Gauß
Im Wald der Metropolen
Zsolnay
2010 · 304 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3-552055056

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