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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Roboter für die Unendlichkeit

Es gibt Bücher, deren Texte gewinnen, je öfter man sie liest. Katharina Hartwells Im Eisluftballon ist so ein Buch. Allein schon der Titel verheißt einiges und spielt aufgrund der prompt evozierten Assoziation zum Heißluftballon mit dem Gegensatz von Eis und heiß – der zwar nicht neu ist, dafür aber die ganze Bandbreite dazwischen in sich hat. Die zwölf Erzählungen haben es in sich. Und auch wenn der Grundtenor der meisten Erzählungen eher unterkühlt ist, so geht es doch ganz schön zur Sache; und was hier mit (und vor allem zwischen) den Worten passiert, ist nicht nur heiße Luft.

Schon bei der ersten Geschichte Grashüpfer steht die abstruse Angst der Ich-Erzählerin vor kleinen Grashüpfern für etwas anderes. Die Grashüpfer existieren nur in der Fantasie; nur einmal habe sie einen „echten“ Grashüpfer gesehen.
Wenn ich von den Grashüpfern erzählen will, wie sie von grellem Grün sind und kleine schwarze Augen haben, die einen gemein anschauen, sagt die Mutter: Denk mal an die Sarah. Die hat wirkliche Probleme. Worin diese Probleme bestehen, erfährt man nicht; auch nicht, wovor die Ich-Erzählerin eigentlich Angst hat. Lediglich der Name ihrer Freundin Sarah könnte ein Indiz sein, muss aber nicht. Der Grashüpfer, der anwesend war, als Sarahs Vater gestorben ist und die Mutter völlig konfus war, wird zum übermächtigen Phantom bizarrer Ängste.

Ein Junge namens Sebastian will einen Roboter für die Unendlichkeit bauen. Auch dieser Roboter steht für etwas, vielleicht – denn der Junge kommt aus desolaten Familienverhältnissen und wirkt vernachlässigt. Eine andere Erzählung thematisiert die unaussprechliche Krankheit eines Kuriositätenladenbesitzers, über die niemand reden will: Pauls Krankheit, verstehe ich, steckt im Kopf, im Herzen, nicht in den Lungen, in den Adern oder Knochen.

Die Protagonistin und personale Erzählerin ist immer involviert, hat dadurch stets eine Art „Tunnelblick“ und macht aufgrund dieser verengten Perspektive Fehler. Diese Rollenprosa ist sympathisch und zieht sich durch alle Geschichten; oft gewähren sie Einblick ins Innenleben, auch wenn nichts wirklich ausgesprochen wird, wie beim Telefonat nach einem Blind Date mit dem Bruder einer Freundin, das beide sehr unterschiedlich erleben.

Hartwells Prosa ist, was ihre stilistischen Mittel angeht, geradezu minimalistisch.

Die Geschichten kommen fast ohne Beschreibungen aus. Es werden zumeist keine Staffagen benötigt, zudem kaum Interieurs oder Äußerlichkeiten der Figuren geschildert. Das Atmosphärische kommt anders auf. Die Geschichten zeigen nur das Notwendigste der jeweiligen Situation. So lassen sie viel Freiraum für die Phantasie des Lesers und konzentrieren sich auf das Wesentliche.

Beim ersten Hineinlesen kann zunächst der Verdacht aufkommen, dass die Erzählungen nichts anderes sind als „längliche“ Kurzgeschichten, da sie mittendrin beginnen und doch im Wesentlichen alle Merkmale von Kurzgeschichten aufweisen. Was sich anfangs vielleicht liest wie dröge, kreuzbrav erzählte Shortstories, immer mit der Stimme einer jugendlichen Erzählerin, mal junge Erwachsene, mal fast noch Kind – Kurzgeschichten mit dem gewissen sozial ambitionierten Touch –, zieht allmählich doch gehörig an. Hemingways Iceberg Theory benennt, dass nur ein kleiner Teil der wichtigen Informationen direkt im Text steht. Das ist hier Programm. Insofern sind Hartwells Prosatücke geradezu mustergültige Kurzgeschichten, deren Schluss zudem immer offen bleibt. Das Vermeiden von Wertungen, Deutungen und vor allem Lösungen ist ihre Besonderheit.

Hartwell arbeitet mit reizvoll Ausgespartem. So wird in der Geschichte Der weißeste Raum der Besuch eines Paares bei den „Schwieger“eltern erzählt. Doch irgendetwas stimmt nicht; allein das eklatante Unwohlsein der Erzählfigur ist Indiz genug. In der Küche fällt der Satz Warum muss er den jetzt auch noch hierher mitbringen? In nur einem einzigen Wort wird klar, dass es ein männlicher Protagonist und somit ein schwules Paar ist. Auch wenn die Darstellung der Mutter als zähnefletschendes Monster nicht wirklich überzeugt und der Ich-Erzähler, der Vegetarier ist, durch das mehrfache Betonen seiner körperlichen (und psychischen?) Geschwächtheit hart am „Tunten“klischee entlangschrammt, kommt der Kunstgriff der Minimalandeutung gut zur Geltung. Für alle, die es überlesen haben, kommt am Ende noch einmal der Satz, als der Ich-Erzähler in die Damentoilette geht: Bei den Männern geht die Tür nicht auf (…) So beziehen die Geschichten der Autorin immer wieder aus solchen Überraschungsmomenten gekonnt ihre Spannung. Das setzt Akzente, ist sehr spannend und gewissermaßen neu. Der unterkühlte Tonfall des Erzählens bekommt dabei in einigen Fällen auch etwas nahezu Depressives. So ändert sich doch einmal die Erzählperspektive; die Themen kreisen um Dinge wie Tabu, Verrat, Schuld, Tod, Selbstmord.

Hartwells Geschichten wollen ergründet sein. Die Geschichten enden da, wo sie eigentlich anfangen könnten, – sollten? Andererseits gehen sie da erst richtig los, wo sie aufhören: im Kopf des Lesers. Es werden scheinbar am Rande brisante Themen angerissen, in Nebensätzen große Fässer aufgemacht. Das Angedeutete wird nicht weitergeführt oder gar vertieft; es werden keine komplexen Problemlagen von Aidskranken (für die es in einer Geschichte, sinnbildlich gesehen, keinen Sicherheitsgurt mehr gibt) oder einem Schwulenpaar aufgefächert und „abgearbeitet“. Das kann man gut finden oder auch nicht; es zeigt lediglich den Status Quo dar, dass unsere Gesellschaft so ist wie sie ist (– und sich da nichts bewegt, wo man denkt, dass sich längst etwas bewegt hätte?); dass unsere Gesellschaft einen riesigen Bogen um so einiges macht, nach wie vor. Hartwells Geschichten gehen immer hinter der Geschichte weiter.

We’re flying high / We’re watching the world pass us by lautet das Motto des Bandes – und man könnte dieses Motto der Synthie-Pop-Band Depeche Mode auch so verstehen, dass wir aus der Distanz der Höhe lediglich zuschauen, wie die Welt und ihr Geschehen an uns vorbeitreibt – ohne einzugreifen. Wir wissen Bescheid, aber tun nichts. Auch das kann als latente Gesellschaftskritik gelten. Aber … langt uns das? Dass Problematiken „nur“ angerissen werden anstatt sie in einer Geschichte zu entwickeln, auszubauen und zu vertiefen? Eine Frage des Standpunktes. Was die einen als „ein bisschen“ oder „zu wenig“ sozialambitioniert empfinden ¬– sehen andere gerade als großen Reiz. Katharina Hartwells Prosa hat ausnahmslos etwas „subkutan“ Verstörendes, das aufgrund der Unterkühlung und Aussparung umso eindringlicher ist.

Katharina Hartwell
Im Eisluftballon
poetenladen
2011 · 144 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691224

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