Die Grenzen der Wahrnehmung öffnen
Es fängt mit ihrer Langeweile an: Die Philosophiestudentin Kit ist auf einer Konferenz über Phänomenologie in Des Moines, auf der
ein Professor mit zurückweichendem Haaransatz und spektakulär unkorrekten Ansichten über die Husserlsche Intentionalität die post-konferenzielle Cocktailstunde dominierte.
Das wollte sie sich nicht länger antun, und um sich davonzumachen, fragt sie nach einer Zigarette - niemand hat eine für sie. Sie geht raus, trifft auf eine Gruppe von jungen Männern, die "eingedieselt" sind und folgt ihnen durch eine Tür mit der Aufschrift "Midwest Cage Championship". Was ihr nichts sagt. In dem Raum sieht sie ein Podium von einem 1,80 Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben und darin
einen Mann, der unter einem anderen Mann lag wie ein Mechaniker unter einem Truck. Der Mann, der oben lag, hatte ein Engelsflügel-Tattoo auf dem Rücken, und die eintätowierten Federn wogten leicht, als er seinem Gegner, den er mit dem Oberkörper fixiert hatte, ins Gesicht schlug: ein rotes Rinnsal troff von dessen Stirn auf die Matte, wo die beiden das Blut mit ihren vereinten Windungen verteilten wie mit Pinselstrichen.
Als der unten liegende Mann aufgibt, sagt sie zu ihrem Sitznachbarn:
Tja, das eröffnet uns wohl eine ganz neue Sicht auf Engel (...) oder aber eine sehr alte Sicht, wenn man ihre nicht unbedrohliche Darstellung im Alten Testament berücksichtigt.
Der Mann starrt sie an, holt sich ein Bier und setzt sich woandershin.
Kit schaut sich weitere Kämpfe an und merkt, dass sie fasziniert von der Brutalität ist. Und als Kevin "The Fire" Burns gegen Sean Huffman kämpft, merkt sie, dass sie sich für den unterlegenen Huffman interessiert, der Schlag um Schlag einsteckt. Und während sein Lächeln immer breiter wird, hat sie ein seltsames Erlebnis, ein unbekanntes Gefühl bemächtigt sich ihr: als
sei ein Schleier vorübergehend gelüftet worden, als hätte mir jemand die Synapsen geölt, so dass die Gedanken ungehindert durch mein Gehirn flitzten und pfiffen, ohne den Reibungswiderstand, den ich bisher für die Gedanken selbst gehalten hatte (...)
und sie fühlte sich, als
hätte ich mich ausgedehnt und in eine Art Nebel aufgelöst, der den gesamten Raum einnahm und die hundert Männer darin einhüllte.
Als sie nach Hause fährt, spürt sie, wie sich die Grenzen ihrer Wahrnehmung erneut schlossen. Und viel später, als sie Sean, der diesen Kampf verloren hat, einmal fragt, ob es wehgetan (er verneint vage) und wie es sich denn angefühlt hätte, sagt er:
Wie aufwachen.
Es ist die Ekstase, die dieser Sport, Mixed Martial Arts (eine Mischung aus Boxen, Kickboxen, Muay Thai, Filippino Fighting Arts, Judo u.a., bei dem vieles erlaubt ist), bei Sean vielleicht, sicher aber bei Kit auslöst. Ein Auflösen, ein Sichverbinden mit der Welt um sich herum, ein Aufgehen in etwas Größerem - so etwas haben die Mystiker schon seit Jahrhunderten mit vielen Worten beschrieben. Kit findet die richtigen Worte allerdings eher bei den Philosophen Schopenhauer und Nietzsche und beim Theatermann Antonin Artaud wieder. Sie erlebt und denkt darüber nach, wie sich die Sinne um ein Vielfaches schärfen, wenn sie den Kämpfen zuschaut und vielleicht sogar bei den Kämpfern:
als sei der schwerfällig, abgestumpfte Körper für einen Augenblick in eine Stimmgabel verwandelt worden
und empfänglich, aufnahmefähig, weit offen.
Und das ist für lange Zeit das einzige, das sie interessiert: Diesen Moment der Ekstase wiederzuerleben und ihn zu fassen, einzufangen und zu beschreiben, denn schließlich studiert sie Philosophie. Sie begleitet erst Sean Huffman, dann auch Erik Koch, zu ihren Kämpfen, aber sie ist auch in der Freizeit da, sitzt mit ihnen herum, trinkt und raucht mit ihnen, redet und sieht fern. Sie ist, was sie "Platzfüller" nennt: jemand, der einfach da ist, der zur Entourage gehört, auch an
quälend eintönigen Sonntagnachmittagen, wenn die Stille unerträglich wird.
In einem der ungewöhnlichsten Bücher dieses Jahres erzählt Kerry Howley von der Zeit, die Kit, ihr alter Ego, mit den Kämpfern verbringt. Was sie sieht, hört, erlebt, worüber sie nachdenkt und was sie über sich, das Kämpfen, die Philosophie und das Leben lernt. Und über die Ekstase, das Heraustreten aus dem begrenzten Körper. Sean Huffman und Erik Koch gibt es übrigens wirklich, auf youtube kann man sich Kämpfe von ihnen ansehen. Sie erzählt vom nervenaufreibenden Warten auf den nächsten Kampf, den man nicht herbeizwingen kann, wenn man nicht zu den Großen gehört, den Titelverteidigern oder Herausforderern, sondern den kleinen Kämpfern in Iowa. Von den Jobs, die Sean annehmen muss, als Türsteher oder Fahrer. Von den Pseudokämpfern, die mit ihrem Gerede auf die Nerven gehen. Von den unterschiedlichen Promotern, die nach dem Kampf auch schon mal mit der Kasse verschwinden. Von den Versuchen, abzunehmen, damit man in die Gewichtsklasse passt, um dann wieder zuzunehmen, damit man nicht vor Hunger und Unterernährung umfällt. Von den Veränderungen bei den Kämpfen. Von den berühmten Trainern, die einen nur nehmen, wenn sie denken, man könnte der Beste der Welt werden. Von Seans Aufs und Abs und seinen Hoffnungen auf einen post-depressiven Neuanfang, der ihn zu den Großen Shows führen soll. Von seinen Geldproblemen und seinem neugeborenen Sohn, den er nur sehen darf, wenn die Mutter Geld von ihm bekommt. Vom grade 20-jährigen Erik, der den Weg nach oben schafft, dabei sich aber mit seinem Bruder Keonie zerstreitet, der ihn aufgebaut hat. Und einmal bei einem Kampf "ein Loch ins Bewusstsein" reißt. Howley beschreibt die unterschiedlichen Charaktere der Kämpfer, der eine
scheint sich durch eine andere Substanz zu bewegen als Sean,
der sich
wie ein fetter Mann auf heißen Kohlen
bewegt. Sie beschreibt auch minutiös die Schläge, Knochen auf Knochen, Mann auf Mann, und spürt einmal,
wie die Gehörknöchelchen der Menge hinter mir im Takt dazu schwingen.
Einmal sagt sie von einem blutverschmierten Boxer, der gerade aufgibt:
Seine Fingerspitzen berührten das Segeltuch mit äußerster Vorsicht, als ob er an eine Glocke tippen würde, um die Concierge zu rufen.
Ihre Prosa erfindet eine Mischung aus Roman, Essay, Sachbuch, Poesie und philosophischer Untersuchung (der Titel ist eine Anspielung auf Heidegger). Das Buch ist ein klassischer Bildungs- und Entwicklungsroman, eine Sportreportage, eine Anleitung zum mystischen Erleben und ein Traktat über die Transzendenz, alles in einem. Detailliert, genau beobachtet, scharf reflektiert und mit einer unendlichen Sympathie für ihre Helden. Ihre Sprache ist manchmal expressionistisch, manchmal fein beschreibend und hat oft einen genauen, schwingenden Rhythmus. Und nicht ohne Humor: Oft nebelt eine subtile Ironie durch die Zeilen, als wenn sie sich bei ihrem seltsamen Tun beobachtet und den Abstand hat, den auch jeder Zen-Meister zu seinem Tun haben sollte. Dennoch ist es ernst, immerhin ist MMA ein Sport, in dem es körperlich zugeht, in dem sich "der mystische Novize" ganz ausliefert, dem Schmerz, den Zweifeln und der Langeweile. Langeweile ist ein großer Bestandteil dieses Lebens, das Warten auf den nächsten Kampf, das Herumhängen in Sportclubs, Hotels, kleinen Apartments. Stunden, totgeschlagen mit Fernsehen oder Videogames.
Natürlich suchen nicht alle Männer nach dieser Erfahrung der Ekstase, viele sind einfach nur ehrgeizige Kämpfer. Aber bei manchen erkennt sie das Bemühen, auch wenn sie es nicht ausdrücken können oder auch nur wollen - wie die meisten Mystiker. Aber am Schluss weiß sie vom Käfigkampf und den Kämpfern, dass sie sich nach dieser "spielerischen Versunkenheit" sehnen. Und der Leser hat einen unerwarteten, völlig neuen Blick auf diese blutige Sportart geworfen und weiß, dass sie doch mehr beinhaltet als brutales Aufeinandereindreschen.
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