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Kritik

Osama bin Laden fährt nachts auf einem Moped durch Abbottabad

Leon de Winter unterhält mit dem Thriller "Geronimo" spannend und auf hohem Niveau
Hamburg

Stolz und selbstsicher schreitet Präsident Obama über den roten Läufer des zentralen Flurs mit den doppelten dorischen Säulen zum Eingang des East Room und stellt sich an das Pult mit dem Präsidentensiegel. Und verkündet, dass „ein kleines Team von Amerikanern“ den Erzfeind der USA erledigt habe:

Nach einem Schusswechsel töteten sie Usama bin Laden und nahmen seinen Leichnam in Gewahrsam.

Obamas größer Coup. Codename „Geronimo“.

Was aber, wenn alles anders war? Wenn Bin Laden überhaupt nicht getötet wurde, sondern entführt? Lebendig, damit man von ihm alle Informationen herausbekommen kann, seine Verbindungen, Pläne, Verstecke, Kontonummern? Der niederländische Autor Leon de Winter spielt in seinem neuen Roman „Geronimo" mit dieser Vorstellung.

Nach dieser Idee wundern sich die Mitglieder dieses SEAL-Teams, dass der Befehl nicht „capture or kill“ lautete, „gefangennehmen oder töten“, sondern einfach nur „kill“. Und sie arbeiten einen ausgefeilten Plan aus, mit dem sie Bin Laden tatsächlich gefangen setzen: Mit der Hilfe von Tadschiken finden sie den geheimen Tunnel zu Bin Ladens Haus und setzen kurz vor dem offiziellen Angriff die Bewohner durch Betäubungsmittel außer Gefecht. Heimlich schnappen sie sich Osama bin Laden und schaffen ihn in ein Versteck, wo sie ihn verhören wollen. Dummerweise läuft dann doch einiges schief, Bin Laden wird wieder befreit und landet in einem Privatgefängnis der Saudis, und am Schluss lässt der israelische Geheimdienst Mossad das Gefängnis in die Luft gehen.

Hätte de Winter es dabei belassen, wäre sein Roman ein stringenter, spannender, glaubhafter, politischer Verschwörungsthriller geworden, mit vielen Details aus der Welt der Politik und der Geheimdienste, mit Misstrauen, Skepsis und Glaubhaftigkeit. Leider flicht er mehrere Geschichten um diesen Hauptstrang, die ihm beinah ein wenig zu zerfasern drohen. Da ist seine Hauptfigur, Tom Johnson, ein CIA-Mitarbeiter in Afghanistan, der immer wieder Mails mit seiner Ex-Frau wechselt und um seine jung verstorbene Tochter trauert: Ausgerechnet bei einem Anschlag in Madrid hatte sie ihr Leben verloren. Da ist das junge afghanische Mädchen Apana, deren Vater Übersetzer für die Amerikaner ist – sie hört bei Johnson einmal Glenn Gould Bachs „Goldbergvariationen“ spielen und ist seitdem von ihnen und von der westlichen Musik überhaupt völlig verzaubert. Nach einem Angriff der Taliban ist sie verschwunden und taucht viele Monate später verstümmelt in in der pakistanischen Stadt Abbottabad wieder auf, die Taliban haben ihr beide Hände abgehackt, sie fristet als Bettlerin ein armseliges Leben. Da ist Jabbar, ein pakistanischer Junge, der sich um Apana kümmert, sich in sie verliebt und ganz zufällig Bin Ladens größtes Geheimnis entdeckt: einen Computerstick mit Dateien und Filmen, mit denen Osama bin Laden Präsident Obama hätte erpressen und die gesamte westliche Welt erschüttern können. Da ist Bin Laden selbst, der nachts verkleidet auf einem Moped durch Abbottabad fährt, bei seinen Ausflügen Apana kennenlernt. Und da ist immer wieder Johnson, der nach der verschwundenen Apana sucht und, als er sie endlich gefunden hat, versucht, ihr, Jabbar und seiner Mutter ein Einreisevisum nach Amerika zu verschaffen.

De Winter gelingt es, wenn auch manchmal nur knapp, all diese verschiedenen, verwirrten und manchmal auch verwirrenden Fäden sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Dabei macht er es durch die Überfülle an Informationen, Menschen, Lebensläufen nicht leicht, all dem zu folgen. Das ist ein wenig schade, denn seine Idee, dass Bin Laden nicht tot ist, ist durchaus nicht so unglaubhaft. Sie funktioniert gut in de Winters "Geronimo" wie überhaupt im ganzen Agenten- und Politthriller-Genre, wo es ja oft um Verschwörungen und Verschwörungstheorien geht. Dort ist die Grundannahme: Alles ist möglich in der Politik und bei den Geheimdiensten, und man weiß ja, wie die Politiker lügen, desinformieren und täuschen können, wenn es um die Macht geht. De Winter jedenfalls verknotet und löst die Fäden dieser Geschichte mit der ihm eigenen Sicherheit und unterhält spannend auf sprachlich hohem Niveau, ein Unterhaltungsroman mit politischen Untertönen

 

Leon de Winter
Geronimo
Übersetzung:
Hanni Ehlers
Diogenes
448 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-257-06971-6

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