Die Zitterfinger bocksprunghafter Ängstlichkeit
Zusammen mit Jutta Kaußen, ihrer Übersetzerin, hat die amerikanische Autorin Lily Brett (geboren 1946 in Feldafing) für den Insel-Gedichtband Wenn wir bleiben könnten aus ihren bisherigen sieben Lyriktiteln der Jahre 1986 bis 2007 achtundzwanzig Gedichte, dazu fünf bislang unveröffentlichte, ausgewählt.
Wie sie in ihrem Vorwort betont, wollte sie „zwischen die Gedichte über Panik und Leiden und meine schöne Mutter, ihre Qual und ihren Kummer, Lachen streuen.“
Was den thematischen Ablauf der Gedichte anbelangt, so ist die angestrebte Tendenz von tieftraurig zu sehr begrenzt heiter im Buch realisiert. Die Biographie der Erfolgserzählerin („Gedichteschreiben ist ganz besonders beruhigend.“, Vorwort) chronologisch nachbildend, spricht meist ein unverhohlenes Ich zunächst ausschließlich von seiner traumatisierten Einbindung in Holocaust, Mord, Verlust und Versehrung, von rudimentären Neuanfängen in puncto Sprache und Identität im Land der Mörder, Deutschland, dann in Australien: Um erst ab Text 21 („Ich male mir/einen sanften Himmel/ein freundliches Licht“ (Gedicht „Heute III“) bzw. 23, hier ausgerechnet in (ironisierter) Danksagung an ihre Analytiker, einen helleren Ton anzuschlagen, überwiegend im Gewand von Liebeserklärungen an ihren Ehemann, den Maler am längst gemeinsamen Wohnort New York.
Was den lyrischen Gehalt der Gedichte betrifft, so stellt sich der Eindruck von Gefälle ein. Eine gewisse Anzahl gibt sich mit dem Narrativen in kurzer Versform zufrieden. Andere enthalten Bilder.
Zur ersten Kategorie gehört der Text „Angekommen in Australien“, dem es in seiner bloßen Deskription, man möchte sagen: einzig, durch das abschließende Zahlwort „vierzig“ gelingt, dessen Enormität hier, literarische Wirkung zu erzielen:
„Als/ihr/ankamt//stelltet ihr/euch vor//ihr/würdet/behandelt// wie/Könige// aufgenommen/mit/offenen/Armen// liebevoll/angeschaut//wirklich/geachtet// was/euch/empfing// waren/besorgte/Gesichter// sie/sagten// wir/wissen//ihr/habt//viel/durchgemacht// aber/es ist/das Beste//ihr/macht euch/nicht/verrückt// mit/diesen/Gedanken//der Versuch//darüber/zu sprechen//hat/euch//vierzig Jahre/gekostet.“
Faktischem, der Statistik ist allerdings auch in einem Gedicht vor dem Hintergrund der ermordeten bzw. so eben noch entkommenen Familie der Autorin, vom Rezensenten unkommentiert, Raum zu belassen:
„Ich vergesse dauernd/die Fakten und Statistiken/und jedes Mal/wenn ich sie wissen muss//schaue ich in Büchern nach/diese Bücher nehmen/zwölf Regale/in meinem Zimmer ein//ich weiß wo ich hingehen muss/um die Tatsache zu überprüfen/dass im Warschauer Ghetto/7,2 Personen pro Raum lebten.“ (Gedicht „Ich vergesse dauernd“)
Wo liegen dann Lily Bretts Stärken in denjenigen Texten dieses Gedichtbandes, die wirklich lyrisch angelegt, literarisch also eindrucksvoll sind?
Sie kommen da zum Vorschein, wo die Sprecherin ihr Verhältnis zur Mutter ausdrückt, wo sie das dichterische Bild ganz einfach benötigt, um sich in die Unabhängigkeit zu entlassen:
„Ich spreche mit dir/jeden Tag Mutter/ich spreche mit dir beim Schreiben/ich spreche mit dir in der Nacht//ich führe unsere Gespräche weiter/ich triumphiere bei unseren Streitigkeiten/ich knicke nicht ein in unseren Kämpfen//und jedes Mal//berührt mich fast//eine Spur Angst/eine Scherbe Schmerz/ein Schauder Trauer//der Dibbuk kocht/der Rowdy heult/die Hyäne wird zornig und kreischt//ihre abgedroschene Rhapsodie/ihre unheilvolle Ouvertüre/ihren allbekannten Chor//ich kenne diesen Krieg/jeden nervigen Ton/jener missmutigen Partitur/bin ich gewohnt//ich verweigere dir/jegliche Freude Mutter/ich würge alte Schmerzen aus mir heraus/und erbreche anklagende Fragen//ich begrabe das Feuer/ich verbrenne die Zärtlichkeit/ich lösche die Liebe/und kann den Preis nicht erkennen//ich kann nicht/weinen um dich Mutter/ich habe es immer wieder versucht.“ (Gedicht „Ich spreche mit dir“)
Kompositorische Techniken der Emphase sind, wie oben schon angedeutet, die zugespitzte Botschaft auf das Gedichtende hin, nicht selten sind dabei Wortwiederholungen im Einsatz, welche glaubhaft die Intensität der Bedrängnis widerspiegeln:
„Es war schwer/gehört zu werden/in unserem Haus//ein lauter Chor/bestimmte/die Partitur//tote Menschen/mit starken/Stimmen//eine Arie/von Heiligen/und Engeln//ein/zerfahrenes/Madrigal//ein/verhängnisvoller/Trauergesang//es ist/deine Tante Fela/dein Onkel Felix//deine Cousine Mara/deine Schwester Hannah//dein Bruder/dein Bruder//deine Mutter/dein Vater//dein Bruder/dein Bruder//dein Bruder/dein Bruder.“ (Gedicht „Ein Chor“)
Die Technik der ganz kurzen Verszeile erscheint dabei für gewisse Kontexte sicher passend bis besonders angebracht, kann bei habituellem Gebrauch aber auch abträglich inflationär wirken. Hier sucht die Romanschriftstellerin wahrscheinlich auch die Herausforderung, die Erleichterung des allergrößten Kontrasts zum Prosageschäft.
Erleichtert auch konstatiert der Leser also im letzten Drittel des Buches, wie die Sprecherin anscheinend, oder doch wohl nur scheinbar, wegkommt von ihrem „Panik-Phantom“, dessen „Zitterfinger“ und „bocksprunghafter Ängstlichkeit“ und dessen „steife Ohren (sie so lange, Verf.) gestreichelt“ hat (Gedicht „Heute I“); nun verständig ausrufen kann:
„Ich bin die ruinierten Rubine leid/die antiquierten Kelche/und sonnenlosen Sonnenuntergänge.“ (Gedicht „Das Halbdunkel“);
nun sich in sympathisierenden Schwüngen Gegenwart und Zukunft zuwenden kann den Kindern und vor allem dem geliebten Mann, dem sich im abschließenden Gedicht „Gestern (für David)“ zu dessen 67. Geburtstag die schönen Zeilen zurufen lassen „Wahrscheinlich liebte ich dich/schon bevor ich geboren war.“
Dieser David Rankin, der Maler, hat auch das Umschlagmotiv „Lily“ beigetragen, das die Autorin bei lyrisch sparsamem Strich in nonnenhaftem Leid, doch rotem Mund abbildet.
Die Übersetzerin (Jutta Kaußen hatte schon eine Auswahl mit Brett-Lyrik ins Deutsche übersetzt: Liebesgedichte, 2008) musste hier – bei kaum verklausuliertem Sprachgebrauch Bretts - wohl nicht ihre härtesten Nüsse knacken. Aber es gehört Geschick und Können dazu, die auf den ersten Blick allersimpelsten Originalverse „if we could stay/like this“ im Deutschen mit abschließendem „so wie jetzt“ zu vertäuen.
Der zweisprachige Gedichtband Wenn wir bleiben könnten ist interessant für diejenigen, die eine andere künstlerische Seite der Romanschriftstellerin Lily Brett kennenlernen möchten. LeserInnen insgesamt aber mögen ihr Angebot an literarisch dargebotener Einsicht in tiefstes Leid sowie Überwindung desselben schätzen; Einsichten, die über den Einzelfall hinausgehen.
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