Drei Forscher im Dschungel - ein explosives Gemisch
"Ich fragte sie, ob sie meine, dass man eine fremde Kultur jemals restlos verstehen könne. Ich sagte, je länger ich hier sei, desto absurder erschiene mir der Versuch, und im Grund interessiere mich inzwischen weit mehr die Frage, wie wir überhaupt darauf kamen, uns irgendeine Objektivität anzumaßen, wo wir doch jeder unsere eigene Definition der Dinge mitbrächten, unsere eigene Auffassung von Güte, Stärke, Männlichkeit, Weiblichkeit, Gott, Zivilisation, Recht und Unrecht."
Anthropologie ist eine schwierige Wissenschaft. Es geht nicht darum, irgendwo hinzufahren, zu einem noch unentdeckten Volk, sie zu beobachten und alles aufzuschreiben. In dem Moment, wo man ankommt, hat man schon etwas verändert. Ein einfaches Beobachten gibt es nicht.
Das erfahren auch die Amerikaner Nell Stone und ihr Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, und der Brite Andrew Bankson. Am Fluss Sepik im Regenwald Neuguineas treffen sie aufeinander, Bankson lebt dort schon seit einigen Monaten bei den Kiona. Er ist einsam und desillusioniert, hat das Gefühl, dass seine Studien, die ihm seine Mutter finanziert, nirgendwohin führen. Dass er überhaupt nichts versteht und die Menschen nicht erreicht. Sogar sein Selbstmordversuch ist gescheitert. Aber dann kommen Nell und Fen, und alles ändert sich. Vor allem Nell fasziniert ihn, ihre Art, sich mit den Menschen vom Volk der Tam, die sieben Stunden flussaufwärts wohnen, anzufreunden, mit ihren Kindern zu spielen. Während er bewusst eine Außenseiterrolle gepflegt hat, objektiv bleiben wollte.
Natürlich diskutieren die drei ihre Herangehensweise: Damals, in den dreißiger Jahren, in denen der Roman "Euphoria" spielt, war die Anthropologie noch eine neue Wissenschaft, vieles war möglich. Einmal erzählt Nell, was sie schon einmal erlebt hat, nach nur acht Wochen Forschung: "Plötzlich erscheint alles ein Ganzes zu ergeben. Es ist purer Selbstbetrug – man ist ja erst seit acht Wochen da –, und was folgt, ist bodenlose Verzweiflung, weil sich nichts, aber auch gar nichts zusammenfügen will. Aber für diesen einen Augenblick meint man alles im Griff zu haben. Es ist ein ganz kurzer Rausch reinsten Glücks." Das ist es, was sie alle drei erleben wollen. Und natürlich wollen sie auch berühmt werden. Wie Nell, die es schon ist, mit ihrem Buch über ein Volk auf Samoa, bei dem die Jugendlichen freien Sex haben, wann sie wollen: ein landesweiter Skandal. Natürlich verliebt sich Bankson in sie.
Es gibt einige Verwicklungen zwischen ihnen, nicht nur, weil Bankson sich in sie verliebt, obwohl er versucht, seine Gefühle zu verschweigen und verstecken, sondern vor allem, weil hier drei Charaktere aufeinandertreffen, die drei verschiedene Stile der Feldforschung betreiben, und weil ihre Persönlichkeiten und Temperamente so unterschiedlich sind: die selbstbewusste, oft euphorische Nell, der etwas depressive und introvertiert Bankson und Fen, der Nell seine sämtlichen Unterhaltungen mit den Männern, seine Beobachtungen bei ihnen verschweigt, weil er neidisch auf ihren Erfolg ist. Der ab und zu auch aggressiv wird, ihre Schreibmaschine und ihre Brille demoliert. Ein hochexplosives Gemisch, das dann am Schluss des Romans auch wirklich platzt.
Lily Kings Roman "Euphoria" greift eine Episode im Leben der Anthropologin Margaret Mead auf, die 1931 mit ihrem Mann Reo Fortune auf Gregory Bateson trifft, den sie im realen Leben später heiratet und mit dem sie zusammenarbeitet. Bateson wurde später auch noch berühmt, als Kybernetiker, Philosoph und Ökologe.
Im Roman wird das komplizierte Beziehungsgeflecht aus mehreren Perspektiven beschrieben, auktorial, durch Tagebucheinträge von Nell, und auch Bankson wird zum Ich-Erzähler. Es wird deutlich, wie Wissenschaft, Neugier und auch Leidenschaft, sexuelle wie berufliche, einen undurchdringlichen Dschungel ergeben, in dem sich manchmal Lichtungen zeigen. Wie die persönlichen Neigungen, Stärken und Schwächen in die Untersuchungen eindringen und die Ergebnisse beeinflussen. Wie unterschiedlich sie arbeiten: Während Nell sich, um auch später die Szene, die Atmosphäre nachvollziehen zu können, notiert "Tavi hält still wiegt sich Lider gesenkt schlafend fast, während Mudama behutsam die Läuse herausknipst & ins Feuer schnippt leises Wetzen von Fingernägeln durch Haarsträhnen, Konzentration Sachtheit Lieben Frieden Pietà", schreibt Bankson: "In Anbetracht dieser Unterhaltung mit Chanta und der räumlichen Nähe der Pinlau zu den Kiona liegt die Vermutung nahe, dass es noch andere Stämme in der Umgegend gab, die ebenfalls Formen transvestitischer Rituale praktizierten."
Wie sich gemeinsame Forschungsarbeit zu einer Ektase steigern kann, die dem Roman auch seinen Titel gegeben hat. Ein Rausch, den sie zu dritt erleben, nachdem sie das Buchmanuskript von Nells ehemaliger Geliebter Helen (im wirklichen Leben Ruth Benedict) gelesen haben, die der westlichen Überlegenheit den Todesstoß versetzt: Sie verurteilt "die westliche Voreingenommenheit gegenüber den Gebräuchen anderer Kulturen als das größte und schwerwiegendste gesellschaftliche Problem überhaupt." Und betrunken von den neuen Erkenntnissen konstruieren sie zu dritt ein Beziehungsachsenkreuz, in dem sie alle Völker und alle Menschen einordnen können: Der Norden steht für die willensstarken, aggressiven, leistungsorientierten, der Osten für die kreativen, innerlichen, nonkonformistischen. Immer feiner werden die Einordnungen: Wo kommen die Frauen hin? Während die Männer im Nordosten sind, sind die Frauen des gleichen Volks vielleicht im Nordwesten. Und geht das auch mit einzelnen Personen?
Virtuos spielt King mit den verschiedenen Perspektiven und Persönlichkeiten, schildert sie in gewalttätigen, aber auch zärtlichen Momenten, z.B. wenn Bankson ihr die Brille seines toten Bruders schenkt. Beschreibt die Sexszenen so, dass sie nicht indezent wirken, aber erotisch bleiben. Zeigt die aneinander vorbeilaufende Liebesgeschichte von Nell und Bankson, aber auch die intellektuelle Faszination, die Sinnlichkeit der Wissenschaft. Die aufregenden Entdeckungen, die geeignet sind, auch die westliche, "überlegene" Zivilisation zu verändern - nicht umsonst galt Mead als Vorreiterin der sexuellen Befreiung. Als sie bei den Tam ankommen, ist Nell fasziniert: "Die Tam-Frauen haben Ehrgeiz und verdienen ihr eigenes Geld. Gut, einen Teil davon geben sie ihren Männern für neue Frauen oder ihren Söhnen als Brautgeld, aber den Rest behalten sie. Sie betreiben den Handel, auch den mit der Keramik der Männer. Und sie bestimmen selbst, wen sie heiraten; die jungen Männer schwänzeln um sie herum wie College-Mädels. Alles steht und fällt mit den Entscheidungen der Frauen. Ich beobachte hier eine faszinierende Umkehr der Geschlechterrollen. Fen, wen wundert's, sieht das anders."
Der Roman, der aus vielen Quellen schöpft, ist natürlich, vielleicht ungewollt, auch ein Beitrag zur jetzigen Debatte um Integration von Flüchtlingen und Ausländern, um das Gefangensein in den eigenen kulturellen Prägungen. Aber wollen wir wirklich alles relativieren, wenn die Naturvölker ihre Babys, die sie nicht wollen, einfach in den Fluss entsorgen? Und sehen die Forscher andererseits nicht nur das, was sie suchen, wie Fen einmal Nell vorwirft? Und so können wir Leser die Forscher beim Beobachten beobachten, können mit ein wenig Abstand nachvollziehen, wie Leben und Theorie eine Verbindung eingeht.
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