U.a. "Chor der Lästerer"
Ich lese die Sommerausgabe 2015 der Zeitschrift Edit an einem kalten Septembertag in einem Gastgarten. Der Schriftsatz scheint absichtsvoll schlecht, charmant-schlecht in dem Sinne, dass alle professionellen Standards der Lesbar- und der Übersichtlichkeit eingehalten sind und trotzdem ausgerechnet Comic Sans zum Einsatz kommt, neben anderen Fonts zwar, aber doch. Comic Sans!
Der deutschsprachige Literaturteil liest sich, mit Ausnahme der zwei Gedichtblöcke, wie ein einziger Text. Dieser Text ist geprägt durch die erste Person Präsens, durch kurze, beschreibende Sätze, durch Emphase des Alltäglichen, auch durch Aufbau, Wortschatz, nochmal Aufbau. Gelegentlich ragen halbsurreale Wendungen in das Gebilde, gelegentlich auch gebrochene Kommentarmanöver, die mich ratlos machen. Solche hier:
(...) , dass sie mal über Foucault meinte, er sei überholt, weil jeder grosse Denker genau dann überholt sei, wenn sein Name bei Microsoft Word nicht mehr rot unterkringelt werde. Und Namen, die so gängig sind, dass sie von Anfang an vom System affirmiert werden, würden sowieso nichts taugen, meint sie.
Im Gastgarten ist es zu kalt, um eine Rezension zu verfassen, deshalb fahre ich heim. Im Bus sitzen wenige Menschen. Wäre dies ein Beitrag in der Edit #67, ich müsste nun noch zwei Adjektive oder Adverbien parat haben, um diese Menschen zu beschreiben. Besser noch, denke ich, wäre es, auf die Adjektive zu verzichten und statt ihrer einen knappen Satz lang die Körperhaltung einer alten Frau o.ä. schildern, während der Bus um eine Kurve fährt. Ich würde aussteigen und die alte Frau o.ä. vergessen; sie käme im Text nicht weiter vor; sie hätte ihre Funktion erfüllt. Auf dem Weg nach Hause würde ich denken:
Dass dieser beschreibende Perlenketten-Stil ja bloß vorgibt, die Reflexion von der Ebene des Gesagten auf die Ebene des Geschilderten zu heben. Dass, wer so schreibt, natürlich jederzeit sagen kann, er bilde den Zustand der Zeitgenossen in ihrer Welt nur ab; dass er_sie dem Unfug aber in Wahrheit Vorschub leistet. Dem Unfug? - Der Fragmentierung der Subjekte. Dass dieser Stil eine Strategie der Uneindeutigkeit darstellt, in der alles geht. Wie, "alles"? - Na zum Beispiel, cool zu sein, weil man glaubhafte Berlin-und-Newyork-Erzähltext-Stimmen schreibt, aber um zugleich distanziert-ironisch die Berlin-Newyork-Coolnes als falsches Bewusstsein zu denunzieren.
Und dann sitze ich aber zuhause am Schreibtisch [hier Detail einfügen, aus dem sympathische Verwahrlosungserscheinungen des Subjekts sich erschließen lassen]. Und lese da auch das andere Zeug, das in der aktuellen Edit steht. Also: Die Übersetzungen, auch die Gedichte; zusammen mehr als die Hälfte des Hefts. Und bin fast versöhnt. Und höre demnach augenblicklich auf, zu persiflieren.
...
Im Ernst: Es gibt einige interessante Texte in dieser Edit. Die Übersetzungen von Aufsätzen, die in US-Magazinen erschienen sind, und die damit wiederum ganz anderen Standards des Erzählens und Sachen-Abhandelns gehorchen als der eben zur Anschauung gebrachte Prosastil, gehören alle dazu ... wobei es über Roxane Gays "Bad Feminist" die eine oder andere Diskussion zu führen gäbe; und bei "Thanksgiving in der Mongolei", einem im Übrigen spannend geschriebenen Stück Kolportage, zumindest mir völlig unklar bleibt, was der Text im Endeffekt sagen will.
Als theoretischer "Schlussstein" der ganzen Ausgabe, gewissermaßen als Brücke zwischen den deutsch-"realistisch"-jung-erzählerischen Texten und US-Magazinschreibe-als-Literatur, funktioniert der abgedruckte Auszug aus dem 2013 bei Hanser erschienenen Dialog "Das kurze Leben der Fakten" von John D'Agata und Jim Fingal, der sich um die Frage nach dem Verhältnis von recherchierten Fakten und Überformung in letzterem Genre, hier schlicht genannt "Nonfiction", dreht. Es ist passenderweise dieser Text, den die Herausgeber der Edit uns als "Vorwort der Ausschreibung zum Edit Essaypreis 2015" vorstellen.
Was ich mir ausser diesem "Kurzen Leben der Fakten" aus dieser Ausgabe merken werde, sind die Gedichte von Maja-Maria Becker. "Asterope" beispielsweise fängt so an -
bemerkenswert in der geschichte der menschheit
ist einzig und allein die auflehnung. nun
werfe den stein, wer steine hat, stand irgendwogeschrieben an einer litfasssäule in hamburg
sternschanze, werbung für einen hagebaumarkt.
ich las es, als über mir die ISS als winziger punkttrieb und ihre oberfläche sich grad langsam
doch unaufhaltsam mit wasser überzog, bläulich
verfärbt in anlehnung an einen planetennahm jemand seinen dienst auf. der helm
von der farbe der rosa-farbenen muschel. die
vakuum-schleuse, die ein saugendes, in den höhenglucksendes geräusch von sich gab, öffnete und
schloss sich wieder. ganz wie vokale auf der glottis
auf konsonanten stoßen, fing ein detektor einseltenes teilchen ein, (...)
- und endet viel viel später, mit Licht, das aus einem Späti dringt.
Es gibt Literaturzeitschriften, die als Orientierungshilfe dienen, weil sie sich bemühen, den Überblick über einen bestimmten Teil des literarischen Feldes zu bewahren und das schlechthin Vorhandene abzubilden. Es gibt aber auch andere Literaturzeitschriften - solche wie die Edit, die in dem Ehrgeiz gemacht zu werden scheinen, stil- bzw. geschmacksbildende Wirkung auf ein bestimmtes Subsegment der Literatur zu entfalten. An diesem Ehrgeiz ist nichts Verwerfliches, auch dann nicht, wenn man den jeweils beförderten Stil, die bevorzugte Form (s.o.) selber gerade nicht so toll findet.
Anm. der Redaktion: Mit dabei: Enis Maci – Zimmer 10, Malte Abraham – Weil wir so sind, sagen wir schön. Martina Hefter – Chor der Lästerer, Stefan Etgeton – orgeln, Alban LeFranc – Der unsichtbare Ring, Maja-Maria Becker – Gedichte, Anna-Theresia Bohn – zu erzählen
Ariel Levy – Thanksgiving in der Mongolei, Emily Fox Gordon – Mit fünfundsechzig, Morgan Parker – 99 Problems, Leslie Jamison – Reisen in den Schmerz, Roxane Gay – Bad Feminist, John D’Agata & Jim Fingal – Das kurze Leben der Fakten, Jan Brandt – Aus dem Berliner Journal 2014, IMDB – Seinfeld Trivia
Mit Fotografien von Arielle Berman und Zeichnungen von Ivy Haldeman
Übersetzerinnen und Übersetzer: Christian Driesen, Heike Geißler, Kirsten Riesselmann, Katharina Stooß, Annette Kühn, Jörn Dege, Kristina Schilke, Margarita Iov, Amanda DeMarco, Andreas Wirthensohn
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Kommentare
Anarchie
Lieber Stefan Schmitzer,
muss Anarchie wirklich so lustlos und abgelebt sein wie im Fall Deiner Kritiken? Wie wäre es mir einer Pause, bis es mit dem Persiflieren wieder klappt?
Gute Besserung wünscht Dir, ganz ohne Heuchelei: Konstantin (Nichtraucher)
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