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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Die Gegenwart des Todes hat Bilder und Leib

Gedichte von Domenico Carosso an seine Geliebte

Ein homme de lettre, dessen fortgeschrittene Lebensbahn ihn weit jeden tölpelhaften Ungestüms der Begierden entrückt hat, trifft auf eine ungelehrte Frau in seinem Alter. Die geistige und sinnliche Attraktion ihrer Erscheinung, ihre Anmut und ihre Herzensbildung fesseln ihn. Fast vier Jahrzehnte dozierte Domenico Carosso an jenem Bildungsinstitut inmitten von Turin, in dem Lucia Zagaria als eine ebenso unentbehrliche, wie allseits beliebte Hilfskraft tätig war. In Gesprächen und gemeinsamer Lektüre wie Alessandro Manzonis „I Promessi Sposi“ entwickelt sich ein ungewöhnliches Liebesverhältnis. Die verhinderten Brautleute Manzonis spiegeln die Irrfahrt des eigenen Lebens. Nur wenige Jahre währt die irdische Blüte dieses späten Frühlings. Der Banalisierung ihres gemeinsamen Erlebens weiß das Paar zu entgehen. Und Lucias Eintritt durch die Pforte des Todes 2008 verewigt das Bündnis dieser Liebe und entzieht es so sehr dem Zugriff prosaischer Gedanken, dass Domenico mit und in Lucias Geist zum Verfasser von Poesie wird. Bei Effata´Editrice erschien noch im Jahr von Lucias Tod „Colloqui“ und 2009 das „Diario die nostri sentimenti“.

Unlängst ist ebendort ein schmales Bändchen mit einem Dutzend ausgewählter Gedicht aus beiden Erscheinungen herausgekommen. Es enthält auch die Übersetzung des Vorwortes des „Diario...“. Die paralelle Wiedergabe von Original und Nachdichtung gibt dem deutschen Leser die Möglichkeit hier die italienische Musik, Dantes Instrumentarium, und dort den deutschen Text wie ein Partiturleser vor Augen zu haben. Helgard Rost gelingt eine behutsame Anverwandlung der einfachen melodischen Wendungen des Originals. Die Leipzigerin ist Vorsitzende des Sächsischen Vereins zu Förderung literarischer Übersetzungen Die Fähre und erwies sich als guter Ferge, um Carossos Gedichte  in der spröden Phonetik der deutschen Sprache anzulanden.

Das Erhabene drängt nach Vollendung und Aufhebung im doppelten Wortsinn. So schreibt Marcello Zanatta im Geleitwort: „…Welchen Sinn macht es mit einer Verstorbenen zu sprechen? Lucia und Domenico fordern uns auf, darüber intensiv nachzudenken. Ihre Befragung gelangt zum tieferen Sinn des Ereignisses, denn der Tod ist ein Ereignis, ein existentiell starkes Ereignis.“ - Die Zitation des Abwesenden ist vielleicht die älteste Formel von Poesie überhaupt. Denken wir an den Dichter der Dichter, Orpheus, der seine Geliebte durch die Süße seines Klaggesanges aus der Unterwelt zurück erwirbt. So wie der Verfasser, als Leser und Übersetzer, der Poesie in der Philosophie Hegels begegnet und von der Weisheit in den Versen Hölderlins berührt wird, so sucht er mit seinen Gedichten das im Tode Verewigte inmitten des Lebes und das Lebensvolle im Abgeschiedenen.

In seinen „Gesprächen“ steht er in einer Perspektive, ähnlich der Dantes zu Beatrice, Petrarcas zu Laura, Hölderlins zu Diotima. Und die in der Doppel-Autorenschaft vermerkte Zwei-Einigkeit trägt Anklänge an Goethes Hatem und Suleika Gedichte im „Westöstlichen Divan“ oder Stefan Georges Maximin-Erlebnis in „Der siebente Ring“. Carossos Gedichte sind keine blutleeren Zitationen übersinnlicher Phänomene. Seine Ahnung und Gegenwart hat Bilder und Leib. So beginnt die Auswahl mit einer ganz irdischen Reflektion Lucias über die Hinfälligkeit des Geliebten. Auch das Vokabular medizinischer Manipulationen fügt sich ohne schnodderig-modernistische Attitüde als selbstverständliche Reminiszenz an die Paradoxie des Lebens in die Verse. Eine Überwindung des Nihilismus in einer entschiedenen Konfrontation mit seinen Phänomenen zu suchen, sich dem Gorgonen-Blick zu stellen, anstatt sich widerstrebend von ihm aufspüren zu lassen, darin ähneln Carossos Gedichten denen Gottfried Benns und der Prosa Ernst Jüngers. Des letzteren Biografie hat Carosso in den vergangenen Monaten übersetzt. Sie wird im Herbst dieses Jahres den italienischen Buchmarkt erreichen.

Eine erweiterte zweisprachige Edition der „Gespräche“ von Lucia Zagaria und Domenico Carosso in bibliophiler Ausstattung befindet sich bei einem deutschen Verlag in Vorbereitung.

Lucia Zagaria · Domenico Carosso
Gespräche
Übersetzung:
Helgard Rost
Vorwort: Marcello Zanatta
Effata´ Editrice
2011

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