Abrechnung und Konsolation
„Die Zähne putzen? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden? Kommt gar nicht infrage […] Da siehst du, dass du besser nicht zum Lyzeum gegangen wärst. Haben die da den Verstand verloren, euch beizubringen, man müsse sich die Zähne putzen?“
So wettert Magdalena, die Mutter des Autors und Protagonistin seines autobiographischen Buches, gegenüber ihrem Sohn. Es bedarf eines starken Durchsetzungswillens und erheblicher Intelligenz, sich gegen dieses Elternhaus zu behaupten, das Traditionen derart eng und streng versteht und die eigenen Prämissen so wenig in Frage stellt, dass sogar das Zähneputzen verboten ist: Die erste, von dem Jungen selbst gekaufte Zahnbürste landet, durch die väterlichen Hände zerbrochen, im Abfall. Andere Kinder lesen nachts heimlich unter der Bettdecke; der junge 't Hart putzt dort die Zähne. Schließlich erreicht er mit einer Finte ein Nachgeben seiner Eltern:
„‚Ich habe Strafarbeit auf', sagte ich. ‚Du? Strafarbeit? Wie kann denn das sein!' […] ‚In der Schule wird kontrolliert, ob man die Zähne putzt', sagte ich. ‚Und man hat bemerkt, dass ich das nie mache. Deshalb habe ich diese Strafarbeit auf.'“
Geradlinig ist das alles erzählt und eindrücklich wie stets. Und vieles wird den Lesern bekannt vorkommen. So wurden beispielsweise die von elterlicher Seite diffus gehaltenen Geschehnisse der deutschen Besetzung während des Zweiten Weltkriegs in 't Harts bekanntesten Roman „Das Wüten der ganzen Welt“ und in „Die Netzflickerin“ literarisch thematisiert. Die kritisch-rationale Auseinandersetzung mit dem Calvinismus findet man einmal mehr durchexerziert in der Ur-Variante, dem Rechenexempel der Tierzahl auf der Arche Noah: Der vierzehnjährige Maarten 't Hart unterzieht die biblische Erzählung einem Realitätstest, indem er am nahe gelegenen Hafen an den lebenden Objekten selbst studiert, wie viel Zeit es bedurft hätte, bis die geschätzte eine Million auf dem Land lebender Tierarten auf das Schiff verbracht worden wäre; er errechnet drei Jahre. Und wie sollen diese vielen Tieren in die eine Arche gepasst haben?
Es sind eben der frühe Forscherdrang und die genaue Beobachtung der tatsächlichen Welt, die den Hochbegabten geradewegs in die Opposition zu den strikten Calvinisten führen. Und zu einer eigenen Position gegenüber seiner Mutter, die auf die Arche-Noah-Frage irgendwann keine Antwort mehr weiß und ihrem Sohn fehlerhafte Berechnung unterstellt. Er geht zur nächsten Instanz … und wird später Biologie studieren.
Überraschendes hält dieses Buch also nicht bereit. Eher erstaunlich wirkt, dass die Titel gebende Protagonistin eigenartig fremd, unnahbar bleibt. Wer war die Mutter Maarten 't Harts, die 2012 im Alter von 92 starb?
In Stichworten: Entbehrungsreiche Kindheit. Furcht vor dem brutalen Vater. Verleugnete Jugendliebe.
Die Entbehrungstaktiken werden übrigens in die nächste Generation fortgesetzt. Als der junge Maarten vom Großvater zum achten Geburtstag einen Metallbaukasten bekommt, darf er dies nicht etwa nutzen: „Ganz ausgeschlossen, Finger weg! Ein so teures Geschenk, und du willst einfach damit spielen?“
Und doch „habe ich [meine Mutter] unendlich geliebt“, schreibt 't Hart, „so sehr, dass ich […] alles, was sie tat – stricken, häkeln […] waschen, kochen – auch lernen und tun wollte, und diese Liebe blieb immer bestehen, ungeachtet all der Dinge, die ich mit ihr habe durchmachen müssen. Sie war geduldig und sanftmütig.“
Und unfähig zu Zärtlichkeiten. Streng calvinistisch. Bis ins hohe Alter von krankhafter Eifersucht auf vermeintliche Geliebte ihres Ehemanns, der seinerseits aber Pferde am meisten liebte, wie der ihm stets zur Kontrolle beigesellte Sohn feststellt.
Ihr Glaubensgerüst und ihren Wahn mit allerlei Listen schützend, versucht sie mit allerlei Taktiken den Sohn vom Besuch der weiterführenden Schule abzuhalten:
„[Sie] fragte mich: ‚Liebst du deine Mutter ein wenig? ‘ – ‚Ich liebe meine Mutter fürchterlich. ‘ – ‚Warum machst du mich dann todunglücklich? Warum bereitest du mir so viel Kummer? ‘ – ‚Es ist überhaupt nicht meine Absicht, dir Kummer zu bereiten, aber ich will so schrecklich gerne auf das Realgymnasium. ‘ – ‚Es wird dir schlecht bekommen, sei also klug und gehe nicht hin. Tu mir das nicht an, wenn du mich nur ein bisschen liebst. ‘“
Doch der Sohn setzt sich durch. Es ist kein Befreiungsschlag, eher eine Distanznahme zu Gunsten der Behauptung der eigenen Position. Entsprechend schildert 't Hart auch kein Familien- und Beziehungsdrama, keine Verkettung, sondern beschreibt lediglich Vorgänge einer irgendwie losen Familie: unsentimental, nicht wertend, Verhaltensforscher, der er ist, hier ohne conclusio.
Letztere lieferte allerdings seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Leny dem Freitag: Ihr Bruder habe über ein familiäres und gesellschaftliches Tabu geschrieben, „nämlich über Menschen mit einer Geisteskrankheit“. Worin wohl der Schlüssel zu jener merkwürdigen Ungreifbarkeit der Person liegt.
Nach dem Tod der Mutter stehen ihre drei Kinder seltsam ratlos vor der Frage des Priesters, wer ihre Mutter gewesen sei. Nach und trotz allem, was die Leser nun gelesen haben, wirken die Anekdoten um die und die Beschreibungen der Mutter wie Leerfloskeln, mehr fragwürdig als durch den sicheren Nachklang einer Persönlichkeit gedeckt.
Was, wenn statt einem nicht recht greifbaren Menschen Leere zurückbleibt und in dieser Leere nur auf den Glauben – in diesem Fall einen so viele Lebensmöglichkeiten ausschließenden – Calvinismus verwiesen wird? Was 't Hart auf den letzten Seiten vollzieht, ist eine Abrechnung an den Sätzen des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunser.
Statt einer Beziehung zu einem Menschen steht dann ganz am Schluss dieser Familiengeschichte das Gefühl einer Beziehungs-Losigkeit, einer Lebens-Entrückung:
„[Wir] flogen über die Autobahn, aber mir kam es so vor, als wäre ich aller Zeit und Ordnung entrückt, als läge ich selber unter der Erde und dürfte zusehen, wie der Verkehr, unberührt vom Tod meiner Mutter und irgendwann auch unberührt von meinem Tod, unerbittlich weiterraste, hin zu allerlei Zielorten, die zu kennen nicht der Mühe wert war. Und ich dachte wieder, was ich so oft denke, wenn ich mir vorstelle, ich sei tot: Weiterleben muss nicht sein […] Ab und zu das Grab […] verlassen, um Bach zu hören, das würde mir dennoch gefallen […] das 'Air' aus der Dritten Suite reicht.“
Das Air mit seinen gemessenen, vorsichtigen und langsamen Schritten, ein Rhythmus der Konsolation. Vielleicht ist das der eigentliche Herzschlag des Schriftstellers Maarten 't Hart.
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