Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Die dunklen Seiten

Hamburg

Ein alter Mann hinterlässt auf einer Parkbank ein Notizbuch. Gheiss nimmt es an sich, beginnt zu lesen. Genauer: Er stellt sich vor, wie sie es ihm vorliest, lauscht beim Lesen ihrer Stimme. Sie, das ist Nilufar. Sie war blutjung, als er sie kennenlernte, er schon in den mittleren Jahren. Elf Jahre war sie seine Geliebte, doch das ist lange vorbei. Trotzdem kommt er nicht von ihr los. Er hat sie vergöttert, für ihn war sie eine Perfektion, die vollkommene Frau aus den klassischen orientalischen Gedichten. Ist es ein Zufall, dass der Protagonist so heißt wie der arabische Liebesdichter al-Qais? Ist es Zufall, dass Gheiss sich angesichts Nilufar einerseits in völlige Liebesverzweiflung wirft, andererseits perfide und brutale Mordpläne schmiedet, als sie ihn zu verlassen droht – ganz ähnlich dem Protagonisten in Sadegh Hedayats „Blinder Eule“? Doch Nilufar ist kein Traumbild, das aus dem Opiumrausch geboren wurde, sondern real. Und ihr Blick auf Gheiss ist ziemlich nüchtern und realistisch. Zwar fühlt sie sich von ihm geschmeichelt, doch wichtiger ist ihr die Frage, ob er der Richtige ist, sie aus der traditionellen Enge ihrer konservativen Familie zu befreien, aus der Nähe des so herrischen wie mysteriösen Vaters, dem wichtiger ist, was die Nachbarn denken könnten, als ein gegen eine seiner Töchter gezücktes Messer.

Nein, all das ist kein Zufall, Doulatabadi arbeitet in seinem neuen Roman (in Iran bereits 2003 erschienen) offen mit einem Geflecht aus vielschichtigen Anspielungen sowohl auf die klassische persische Literatur wie Hafis, Nizami oder Rumi als auch auf die klassische Moderne in Form von Hedayat oder Shamlu. Wie schon in „Der Colonel“ setzt er auf eine tiefdunkle, verstörende Stimmung, die zwangsläufig an Hedayat erinnert. Es scheint als habe sich Doulatabadi, der als einer der bedeutendsten Gegenwartsautoren Irans gilt, für sein Spätwerk weitestgehend von den ländlichen Motiven seiner großen Werke wie „Kelidar“ oder „Der leere Platz von Solutsch“ verabschiedet. Stephan Weidner bezeichnete ihn einmal als Epiker, vergleichbar mit Tolstoi, und hatte dabei sicher seine früheren Werke im Sinn. In „Nilufar“ geht Doulatabadi auch erzählerisch neue Wege, indem er seine Figuren und die Erzählperspektiven ineinanderfließen lässt, seine eigene Handlung mit den klassischen Motiven verwebt und damit in einen größeren Kontext stellt. Man muss dabei bedenken: Im Gegensatz zum „Colonel“ hat „Nilufar“ eine Freigabe von der iranischen Zensurbehörde erhalten. Man muss also zwischen den Zeilen lesen, muss weiterdenken um zu sehen, worauf die Anspielungen deuten. Wenn an bestimmter Stelle ein Weinschenk bei Hafis auftaucht, an anderer der Trödler von Hedayat, so geschieht das mit Kalkül. Ist es die Liebe, an der Gheiss zerbricht, der Hass oder gar die Welt, die immer bedeutungsloser wird, je näher er zu sich selbst kommt? Oder sind es doch die gesellschaftlichen Zwänge, die aus Nilufar die hinterlistige Taktiererin machen, die ihre Schwester in ihr sieht? Ist es die zwangsweise Abwesenheit des Realen, die Gheiss in die Position des leidenden Minnesängers zwingt? Und wer ist Gheiss überhaupt?

Keine dieser Fragen beantwortet der kunstvoll gewebte Roman, und er muss es auch nicht. Er begnügt sich damit, sie zu stellen. In einer dunklen und kalten Nacht, auf den Stufen eines verschlossenen Hauses...

Mahmud Doulatabadi
Nilufar
Übersetzung:
Bahman Nirumand
Unionsverlag
2013 · 224 Seiten · 21,95 Euro
ISBN:
3-293-00455-5

Fixpoetry 2013
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge