Ein ungeahndeter Kindesmord
Selma lebt als Ärztin in Montpellier, als ein Todesfall in ihrer Praxis Erinnerungen aus ihrer Kindheit wachruft. Als Tochter von Nomaden in der algerischen Wüste geboren, studierte sie in Oran und später in Paris Medizin. Sie versuchte zu vergessen, zu verdrängen, bis die Bilder in ihrem Leben mit einem Mal wieder präsent waren: Selma hatte beobachtet, wie ihre Mutter das neugeborene Baby ihrer Schwester, Selmas Tante, mit einem Polster erstickt hat. Ein Mord ohne Folgen. Ein Mord, den die Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern sogar fordert, um die Ordnung (scheinbar) aufrecht zu erhalten. Diese Erinnerung hatte sich tief in ihr Bewusstsein eingeprägt.
Dieses Erlebnis prägte Selma. Sie zog sich zurück, galt als bockiges Kind, verbrachte Nächte in den Dünen. „Mein Herumstreunen wie eine verwilderte Katze brachte die Militärpatrouillen allerdings zur Verzweiflung. Da sie den Verdacht hatten, es seien Machenschaften des Widerstands, durchsuchten sie mich und zerrissen mein Kleid, ohne je etwas zu finden.“ (Damals jene Zeit, als Algerien die Unabhängigkeit erkämpfte.) Ein Offizier rettete ihr das Leben, als ein Soldat sie erschießen wollte. Daraus entwickelte sich eine sehr berührende Szene: „Jedes Mal, wenn ich ihm danach über den Weg lief, blieb er stehen, lächelte mir zu, nahm ein Bonbon aus der Tasche, legte es auf seine Hand, hielt es mir hin und rührte sich nicht mehr vor der Stelle. Ich ging auf Zehenspitzen auf ihn zu, nahm das Bonbon und rannte lachend davon. Ich hörte ihn auch lachen.“
Aufgrund des verdrängten Erlebnisses ist die Beziehung zwischen Mutter und Tochter zeitlebens gestört. Selma ging ihren eigenen Weg in die Freiheit und lebt in einer freien Gesellschaft, was für die Mutter schwer zu begreifen ist, die in den Traditionen verstrickt ist. „Hier ist Fettleibigkeit das Schönheitsideal und Freßsucht das Kriterium für Gesundheit.“
Indem die Mütter in die Rolle gedrängt werden, „Bastarde der Familie auszusetzen oder zu ermorden“, machen sie sich erpressbar. „Wenn sie sich weigerten, wurden sie getötet.“ Ein berührendes Buch, das jene Dinge benennt, die sonst verschwiegen werden – und in Europa kaum bekannt sind –, insbesondere da dies kein Einzelfall ist, sondern gängige Praxis. Nicht der Onkel, der Selmas Tante geschwängert hatte, ist der Schuldige. Dieses Buch nicht zu lesen, bedeutet Wegschauen und die Augen zudrücken vor Ungeheuerlichkeiten, die uns umgeben.
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