Blickfluchten, Worte
Hat er die ihm gemäße Landschaft gesucht und sich dort eingefunden, oder hat eher ihrerseits die Landschaft auf sein Werk eingewirkt? Wüßte man nicht, daß Manfred Peter Hein in Finnland wohnt, und würde man die Umgebung seines Wohnblocks nicht aus Frank Wierkes wunderbar erhellendem Dokumentarfilm vor Augen haben, man würde ihn dennoch in einer mit dem Nordland assoziierten Gegend vermuten. Denn seine Gedichte sind geprägt von einer Kargheit, die jeden Mörtel aus den Fugen kratzt, einer Strenge, die das lyrische Sprechen beinahe schmucklos macht, einer Konzentration, die die Kürze sucht und auf jedes Wort einen schweren Akzent legt. Manfred Peter Hein neigt mitnichten zum Spiel und zur lockeren Plauderei. Er sondiert die Dichtung wie ein Gestein, um in die tieferen Schichten vorzudringen, zu den Drusen der Erinnerung, den verräterischen Träumen. Doch am Ende ist alles vom seltsamen Zauber der Gestaltung umhüllt, als staune da einer über die Formen, die sich nach unerklärlichen Gesetzmäßigkeiten gebildet haben. Drei Motive kehren dabei immer wieder:
Der Blick. — Meist geschieht die Selbstvergewisserung über den Ort des Dichters durch den Akt des Sehens. Dieser Blick ist zwiefältig, er wendet sich den sichtbaren Phänomenen zu, ist aber genauso sensibilisiert für die Erscheinungen der Imagination. Vieles ist nicht direkt zu sehen, es vermittelt sich nur in Spiegelungen, in Formen, die es zu dechiffrieren gilt. Beinahe wartet man auf ein „dereinst aber von Angesicht zu Angesicht“, hat indessen die Gewißheit, daß dieser Trost ausbleiben muß. In einer Welt voller Schatten sucht Manfred Peter Hein die Lichtrisse und zieht „ihre Konturen nach“, sprechend.
Das Wort. — „Mit Sprache unterwegs / die Auslotung des zündenden / Augenblicks — // oder Anwandlung“. Die Sprache registriert die seismischen Aktivitäten, die die Welt erschüttern; in Schriftzeichen, Hieroglyphen ähnlich, oder auch Notenkonstellationen, zeigen sich die Dinge auf der Folie des Augenblicks, und die Worte übersetzen sie als condicio humana. Auf allen Expeditionen ist die Sprache die schritttreue Begleiterin Manfred Peter Heins und vor allem keine beiläufige poetische Bestimmung des eigenen Tuns, sondern eine viel existentiellere, sie reicht nämlich bis in die Untergründe des Daseins. Gäbe es die Sprache nicht, wäre Hein vielleicht nicht blind im physischen Sinn, aber das Gesehene bliebe ihm ein noch größeres Rätsel als es das ohnehin schon ist.
Die Erinnerung. — „Was bring ich hervor“, fragt Hein, „aus der Lichthülle Dunkel / gespiegelt im Wort // das über den Abgrund trägt / Flügelschlag Erinnerung — // Erscheinungen am Fels“. Was auf diese Weise auftaucht, entzieht sich dem bewußten Willen, es ist eine Gabe, wie sie dem Schamanen gewährt wird, eine Erscheinung, die sich wunderbarerweise mit der Leichtigkeit einer Vogelschwinge und der Gnade des Pegasusflügels bewegt. Die Erinnerung ist bei Manfred Peter Hein nicht selten schrecklich, wie eine Wanderung über Ascheebenen, und der Akt des Erinnerns schmerzhaft. Erinnerung jedoch befragt auch die Bilder nach ihrer Berechtigung, nach ihrem Grund, und hilft somit, das Geschehene zu klären und erklären. In ihr verbirgt sich immer auch eine Chance: „Steig in die Jahre / hinab zu sehen was dort / dir entgegenschlägt“.
Der Magus aus dem hohen Norden vermißt die „lange Strecke ins Unermeßliche“ genauso wie die Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit des zeitkurzen Lebens. Seine Melancholie macht den Wert und die Schönheit der Dinge trotz ihrer und ihres Betrachters Flüchtigkeit sichtbar, diese Vergänglichkeit innerhalb des Vergehens der Zeit. Fast scheint es, als habe die Knappheit der zubemessenen Zeit auch Auswirkungen auf die Form der Gedichte, nämlich ihren lakonischen Ton, ihre Gedrängtheit, ihre unruhige Zersplitterung auf der Buchseite. Doch hin und wieder brechen aus der Zeitferne unvermittelt die Schrecken der Gegenwart, die Angst herein. Dann verzahnt sich Sorge mit Zorn auf politischen und religiösen Irrsinn. Wer in geologischen Epochen denkt, schärft den Blick für die Unbedeutsamkeit all der Dummheiten und Miseren der Menschen. Doch zuletzt kann er sich aufraffen zu sagen: „Lichtpartikelsturz / hier wo ich gehe“.
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