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Kritik

Konfrontiert mit zerstörten Träumen

„Istanbul war ein Märchen“ – so lautete der Titel des ersten im Jahr 2008 auf Deutsch erschienenen Romans des jüdischen Istanbuler Schriftstellers Mario Levi. In seinem neuen Roman, der unlängst bei Suhrkamp erschienen ist, wird das Märchen konfrontiert mit zerstörten Träumen, dem Schleier der Erinnerung und der Brutalität des türkischen Nationalismus der frühen Achtziger.

Der Protagonist Isaak ist in die Jahre gekommen, und er wagt eine Retrospektive: Wie kam ich hierhin? Hätte ich mir damals je dieses Heute vorstellen können? Damals, das war die Zeit des ewigen unausgetragenen Vaterkonflikts, so sehr zum Scheitern verurteilt wie alle Vaterkonflikte. Isaaks Vater führte einen kleinen Laden im Herzen der Bosporusstadt. Ein konservativer Mann, der immer genau wusste, was gut sein sollte für seinen Sohn. Isaak spürte derweil die Enge in der Stadt. Als Juden waren sie geduldet, aber viel mehr auch nicht. Sie lebten in einer brüchigen Situation, die vor allem Zusammenhalt erforderte – eben jenen Zusammenhalt, der in konservativen Familien stets auf Lügen basiert.

Der Sprössling brach aus, ging nach London, und natürlich erlebte er dort die ganze Brutalität des Westens, des Kapitalismus, der Oberflächlichkeit, der kulturellen Barrieren. Gesenkten Hauptes kehrte er zurück, ohne aber klein beizugeben. Mit Freunden  gründete er eine Theatergruppe und engagierte sich auf der Seite der Sozialisten gegen die nationalistischen Fanatiker. Er schrieb ein Theaterstück, das einzige, das die Truppe je aufführen sollte. Es trägt den Titel „Istanbul ist mein Leben“.

Inzwischen hat Isaak geheiratet. Er hat Kinder. Er hat den Laden seines Vaters übernommen. Der jugendliche Tatendrang, wo ist er? Die politischen Träume wurde erstickt, und auch die Lebensträume. Und dennoch geht es ihm nicht schlecht. Was ihn trägt, ist diese allumfassende, wärmende Melancholie namens Hüzün.

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach? Isaak will es wissen, er will die alten Weggefährten aufspüren und sehen, wie es ihnen ergangen ist, und vor allem will er Sebnem wieder sehen, die ihm damals gesagt hatte: „Vergiss mich niemals“. Er hat sie nicht vergessen, natürlich nicht, und ein umso größerer Schlag ist ihr Schicksal im ersten Moment, bevor Isaak Mut fasst und sie zurückholen will in diese Welt. Ebenso wie Necmi, der vom Militär gefoltert wurde, ebenso wie den Griechen Yorgos und den Juden Niso. Er will sie alle vereinen, denn er will das Theaterstück ein letztes Mal mit ihnen gemeinsam aufführen.

Es ist ein lebenskluges Buch , ein hochpolitisches aber vor allem auch ein zutiefst menschliches Buch, das Mario Levi hier vorlegt, ein Buch, das zwar stellenweise zu ausschweifend ist, das aber vor allem dem Erinnern und dem Nichtvergessen und der Reflexion ein Denkmal setzt. In der Türkei wurde es erwartungsgemäß kontrovers aufgenommen, in Deutschland ist es vor allem ein Werk, das bitter nötig ist als eine leise und bedachte Stimme im pöbelnden Getöne, das immer dann laut wird, wenn es um das Reizthema Türkei geht.

Im Grunde transportiert Levi in diesem Roman  das, was Istanbul ausmacht: Dass die Stadt ein Lebensgefühl ist, das einen nicht loslässt. Wer einmal dort war, wird Istanbul nie wieder verlassen, denn er trägt Istanbul in sich. Für immer. Immer wieder wird es einen an den Bosporus ziehen, ungeachtet aller Widrigkeiten.

Mario Levi
Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?
Suhrkamp
2011 · 678 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-518422267

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